hamburg:pur Dezember 2025

Foto: Match Factory Productions Foto: A24 FILM Paternal Leave Einfühlsames Vater-Tochter-Drama von der rauen Kulisse des winterlichen Norditaliens Die norditalienische Küste im Winter ist ein unwirtlicher Ort: grauer Himmel, graues Meer, geschlossene Strandbuden, Sou- venir-Überreste in verlassenen Ladenzeilen. Für die 15-jährige Leo jedoch ist es der Ort der Hoffnung. Denn dort reist sie ohne das Wissen ihrer Mutter hin, um ihren Vater zu treffen. Den hat ihr ihre Mutter bis dahin verschwiegen. Doch dieser Vater Paolo (Luca Marinelli) wusste nichts von Leo (Juli Grabenhenrich) – bis zu ihremAuftauchen in seiner verrammelten Strandbar mit Camper vor der Tür. Der ist gerade damit beschäftigt, sich um seine zwei- te, sehr viel jüngere Tochter zu kümmern, von der Mutter ist er auch schon wieder getrennt. Paolo ist ein Mann, der die Verant- wortung, die Bindung scheut, Leo ein junges, wütendes Mädchen, das nach Antworten sucht. Doch wie wenig sich Vater und Toch- ter verstehen, wird schon an der Sprache allzu deutlich. Paolo spricht kein Deutsch und mittelmäßig Englisch, Leo kein Italie- nisch, dafür sehr gut Englisch. Sie ist die, die agiert, er reagiert – vor allemmit verunsicherter Ablehnung. Immerhin findet Leo in Edoardo (Arturo Gabbriellini) einen Vertrauten. Sie beide sind von ihren Vätern Verstoßene, wenn auch aus unterschiedlichen Grün- den. Und da sind noch die Flamingos, die Leo begleiten und zu einem zentralen Motiv von Alissa Jungs „Paternal Leave“ werden. Riesige Kolonien leben in unmittelbarer Nähe und ein knallpinker Flamingoschwimmreifen wird zu Leos ständigem Begleiter. Flamingos, so erzählt Leo ihremVater, teilen sich gleichwertig die Aufzucht ihrer Jungtiere. Sogar die Kropfmilch produzieren Weib- chen wie Männchen, eine Metapher, die Alissa Jung geschickt einsetzt. Die Regisseurin findet für ihre behutsame Coming- of-Age-Geschichte stimmige Bilder: Die schroffe Landschaft spie- gelt die vielen rauen Wogen zwischen Leo und Paolo. Der Italiener Luca Marinelli und die junge Berlinerin Juli Grabenhenrich har- monieren dabei großartig – immer zwischen Überforderung, Wut und ein paar wenigen Momenten der Vertrautheit. „Paternal Leave“ ist trotz seiner Unwirtlichkeit ein poetisch-betörender Film – vielleicht auch gerade deswegen. Text: Britta Schmeis Regie: Alissa Jung. Mit: Juli Grabenhenrich, Luca Marinelli. 96 Min. Ab 27.11. ★★★★★ Sorry, Baby Indie-Tragikomödie, die auf wunderbar eigene Weise von Traumata erzählt Eva Victor lässt sich nicht festlegen. Eigentlich wollte sie auf die Theaterbühne und das große Drama zelebrieren, Anton Tschechow oder Arthur Miller vielleicht. Doch immer wieder brach die Komi- kerin in ihr durch – und in ihrem erstaunlichen Debütfilm, den sie nicht nur schrieb, sondern bei dem sie auch Regie führte und die Hauptrolle spielt, bringt sie das alles zusammen – in einer berüh- renden Geschichte, die zwischen Drama und Komödie balanciert und dabei auf ganz eigene Weise von einer jungen Frau erzählt, die sexuell genötigt wurde; von Agnes (Eva Victor), die einem kleinen Städtchen in Upstate New York an ihremDoktor in Literatur arbei- tet. Idyllisch ist es dort, die Holzhäuser sind groß, die Sonne scheint golden und ihr Professor ist ein gutaussehender Typ, der ihre In- telligenz bewundert, aber ihr Nein irgendwann nicht akzeptiert. Wort für Wort erzählt Eva ihrer besten Freundin Lydie (Naomie Ackie), was geschehen ist. Mehr Platz räumt Victor dem Mann nicht ein. Sie konzentriert sich ganz auf Agnes selbst – und auf die Zeit nach dem „Vorfall“. In Episoden, die sie nicht chronologisch erzählt, son- dern die wie ein Kaleidoskop aneinanderfügt sind. Da geht es dann um „Das Jahr mit der üblen Sache“ oder um „Das Jahr mit dem gu- ten Sandwich“. Episoden, in denen sie, statt sich in verzweifelten Gesten zu verlieren, imStillen und imAlltag forscht, Komik und ab- surde Situationen einflicht. Man beobachtet, wie sich das Erlebte wie eine Wolke über Agnes’ Leben legt. Aber vernichten wird sie es nicht. Einen grimmigen Wintermonat lang hat Victor die Geschich- te, mit ihrer Findelkatze auf demSchoß, in einem kleinen Holzhäus- chen geschrieben. Entstanden ist ein goldener Indie-Film, eigen- sinnig und unique – und umwerfend nah am Leben dran. Text: Sabine Danek Regie: Eva Victor. Mit: Eva Victor, Naomie Ackie, Lucas Hedges. 104 Min. Ab 18.12. ★★★★★ Vater und Tochter in „Paternal Leave“ – fremd, und doch vertraut Nichts als gute Laune in „Sorry, Baby“ 26 Foto: Metropolitan FILM Herz aus Eis Elsa für Fortgeschrittene Wer das Kino als Tor in eine andere, mysteriöse Welt, in ein Reich zwi- schen Traum und Wirklichkeit erleben will, ist bei der Französin Lucile Hadžihalilović an der richtigen Adresse. Konfektionierte Leinwandwer- ke für die Massen sind ihre Sache nicht. Vielmehr liebt sie es entschleu- nigt, verrätselt, handlungstechnisch abgespeckt. Das, was passiert, ist längst nicht so wichtig wie die Stimmungen, die sich in ihren Arbei- ten Bahn brechen und das Publikum in eine Art Trancezustand verset- zen sollen. Auch „Herz aus Eis“, uraufgeführt auf der Berlinale 2025 und dort mit einem Silbernen Bären für die herausragende künstleri- sche Leistung ausgezeichnet, sperrt sich einfachen Zuschreibungen. Im Mittelpunkt steht das Waisenmädchen Jeanne (Clara Pacini), das seine tote Mutter vermisst und eine Faszination für Hans Christian Andersens Märchen „Die Schneekönigin“ entwickelt hat. Als sie aus dem Kinderheim ausbüxt, verschlägt es sie – ein Wink des Schicksals – ausgerechnet an das Set einer Filmadaption besagter Erzählung. In den Bann schlägt die Teenagerin, die sich selbst eine andere Identität verpasst, sofort Hauptdarstellerin Cristina. Eine unterkühlte, bei den Mitwirkenden Angst verbreitende Diva. Zwischen ihr und Jeanne ent- steht eine beunruhigende Anziehung. Ob man diese auf knapp zwei Stunden auswalzen muss und ob der Kunstanspruch vielleicht etwas zu deutlich ausgestellt wird – das sind berechtigte Fragen. Schon die bedrückende Darbietung Marion Cotillards in der Rolle Cristinas ma- Clara Pacini guckt in „Herz aus Eis“ gedankenverloren ins Leere chen „Herz aus Eis“ aber zu einem besonderen Ereignis. Lässt man sich ein auf den Stil der Regisseurin, entfaltet das surreale Coming- of-Age-Drama mit seiner flirrenden Musikuntermalung und seinen sorgsam komponierten, oft betont artifiziellen Bildern eine hypnoti- sche Kraft. Gefährliche Obsessionen, der Schein der Filmwelt, das Loslassen der Vergangenheit, toxische Abhängigkeit und Todessehn- süchte – all das bindet Hadžihalilović in ihrer Geschichte zusammen, obwohl de facto wenig passiert. Wahrlich wundersam! Text: Christopher Diekhaus Regie: Lucile Hadžihalilović. Mit: Marion Cotillard, Clara Pacini, August Diehl. 118 Min. Ab 18.12. ★★★★★ Foto: Edgar Castrejon / Unsplash LUST AUF EINEN ZWISCHENGANG? Alles rund um die Food- und Gastroszene gibt’s jeden Donnerstag im Genuss-Guide Newsletter IMMER INFORMIERT! genussguide-hamburg.com Hier geht’s zur Anmeldung: https://bit.ly/3ipqWrA

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