hamburg:pur Dezember 2025

Foto: Krafft Angerer Gefährliche Liebschaften Skandalklassiker trifft auf Improvisation Hoch über der Bühne des Thalia Theaters hängt ein Himmel aus fran- zösischen Trikoloren, der sich ab und zu bedrohlich auf die Akteure hinabsenkt: Das Stück „Gefährliche Liebschaften“ (Regie und Bühne: Sebastian Hartmann) beruht auf dem gleichnamigen Briefroman von Choderlos de Laclos und entstand 1782, am Vorabend der Franzö- sischen Revolution. Das Buch, angesiedelt in den dekadenten Krei- sen des Pariser Hoch- und Hofadels, war seinerzeit ein Skandalerfolg. Denn Laclos, der später als Redenschreiber für Robespierre arbei- tete, beschrieb genüsslich die Abgründigkeit der elitären Welt, ent- tarnte Intrigen, Manipulationen und skrupellose Machtspiele. Im Zentrum des Geschehens stehen die einflussreiche Marquise de Merteuil (angemessen unerbittlich: Caroline Junghanns) und ihr ehe- maliger Liebhaber Vicomte de Valmont (schön durchtrieben und selbstgerecht: Marius Huth), die gemeine Racheakte und fiese Ver- führungsprojekte planen und durchführen. Zu ihren Opfern zählen die tugendhafte Madame de Tourvel (Gina Haller) und die junge, naive Cécile (Lisa-Maria Sommerfeld). Beide Darstellerinnen bringen das emotionale Chaos, unter dem die Figuren leiden, gekonnt auf die in Nebel gehüllte Bühne. Dort verausgabt sich das fünfköpfige Ensemble körperlich und ver- bal: Da wird gekämpft, gerungen und kopuliert, da äußern sich wi- derstreitende Gefühle in expressiven Bewegungen, die entfernt an Tänze erinnern. Die Texte, durchgängig sehr laut und ungehemmt in die Welt hinausgeschrien, sind meist lange Monologe voller Verzweif- lung und Hass, Angst und Lebensüberdruss, Sehnsucht und Liebe. Die Handlung gerät – anders als in der berühmten Verfilmung mit John Malkovich, Glenn Close und Michelle Pfeiffer – in den Hinter- grund, Kontinuität spielt keine Rolle. So steht es den Schauspielern frei, die Szenen an jedem Abend neu zusammenzusetzen. Text: Julika Pohle Thalia Theater, 4., 20., 25, 30.12. und weitere Termine Foto: Franziska Strauss THEATER Miss Merkel – Mord in der Uckermark Ex-Kanzlerin ermittelt im Schloss Plötzlich Rentnerin! Und was macht Angela Merkel gegen die Lange- weile im Ruhestand? Sie wird zur Amateurdetektivin nach dem Vor- bild von Miss Marple – wenn man Bestsellerautor David Safier glaubt. Diese Leidenschaft dichtete er der Ex-Kanzlerin in bislang vier Ro- manen an. Im Fernsehen gingen die Krimis schon in Serie, nun kann man „Miss Merkel“ auch live zuschauen, wie sie den „Mord in der Uckermark“ aufklärt. Vom Blazer über die Mundwinkel bis zur Raute – bei Christoph Mar- tis Merkel-Imitation stimmt fast alles (nur die Perücke sollte noch mal zum Friseur). Er und sein Partner Tobias Bonn als Merkel-Gatte Joachim Sauer geben ein großartiges Paar ab, inklusive der auf Ko- mik angelegten Gang- und Gesten-Kopien; seit Jahrzehnten sind die beiden imKabarett-Kollektiv „Geschwister Pfister“ ein eingespieltes Team. Ginge es nicht um die Schriftsteller-Fantasie, was ein berühmtes Rentner-Ehepaar in seiner Freizeit macht – die Story wäre kaum er- zählenswert: Ein Burgherr wird ermordet, und während der unbe- darfte Dorf-Polizist kurzsichtig schlussfolgert, geht Miss Merkel der richtigen Spur nach. ZumGlück machen originelle Texte und fetzige Musik der zur Bühnenfassung hinzu komponierten Lieder den Abend zum launigen Spektakel. Witzig: Das gesungene Bekenntnis als „Mann imDamenprogramm“ des Rückschau haltenden Herrn Sauer, eben- so sein Tanz mit der Gattin, wenn’s imWalzerschritt heißt: „Die Kanz, die Kanz, die Kanzlerin kann’s.“ Gekonnte Seitenhiebe auf die sta­ gnierende Karriere von Friedrich Merz während der Ära Merkel sowie Richtung östlicher Bundesländer ob deren Ausländerfeindlichkeit passen bestens in die Inszenierung von Intendant Martin Wölffer. Leider bewegen sich nicht alle im achtköpfigen Ensemble auf dem Niveau des souverän agierenden Ehe- (respektive Geschwister-) Paars. Doch am Ende siegt die Stimmung des Merkel-Mottos „Wir schaffen das!“ mit reichlich Applaus vom Publikum. Text: Dagmar Ellen Fischer Komödie Winterhuder Fährhaus, 3.–7.12. Aufregung am Tatort: Christoph Marti (l.) als Angela Merkel Es wird gekämpft, gerungen, kopuliert: „Gefährliche Liebschaften“ 20 Foto: Lalo Jodlbauer THEATER Das große Heft Zutiefst beunruhigend Wie ein Raumschiff in Schieflage hängt ein mit Scheinwerfern und Lautsprechern bestückter riesiger Ring über der Spielfläche. Unten sind zwei Jungen unfreiwillig in einer kleinen Stadt gelandet, von ihrer Mutter dorthin gebracht, um sie vor dem Krieg zu retten: Fortan müssen die Zwillinge bei ihrer Großmutter leben, die als Hexe verschrien ist. Hier verwahrlosen die beiden, erfahren kör- perliche, seelische, sexualisierte und verbale Gewalt. Das Erlebte schreiben sie in „Das große Heft“. So betitelte Ágota Kristóf ihren 1986 erschienenen Roman, in dem sie in kurzen Kapiteln Berichte über die nackte Existenz festhält – Fakten ohne Gefühle, denn die können sich die Kinder nicht leisten. Wenn sie allein sind, beschimpfen und prügeln sie sich, quälen und töten Tiere – um sich systematisch gegen die allgegen- wärtige Unmenschlichkeit abzuhärten. Mit Erfolg: Als ihre Mutter am Ende des Kriegs stirbt, wird selbst das nur zu einemweiteren Faktum in ihrem Heft. Mit dieser Szene beginnt Karin Henkels Inszenierung. Darin über- nimmt sie die distanzierte Erzählweise der Autorin: Kristof Van Boven und Nils Kahnwald berichten vorzugsweise an der Rampe, eine glaubwürdige Naivität in der Körpersprache konterkariert die schrecklichen Erfahrungen. Julia Wieninger spricht als Auto- rin und Großmutter. Dann der Bruch: Sieben Überlebende des Hamburger Feuersturms 1943 übernehmen bei Arbeitslicht die Bühne. Sie erzählen, wie sie als Kind den Tod des besten Freunds erlebten, über verkohlte Leichen stiegen. Marione Ingram spricht als Letzte: „Operation Gomorrha“ rettete ihr das Leben, da die geplante Deportation der jüdischen Familie nicht stattfinden konnte. Was kann nach der Pause noch kommen? Alles geht seinen Gang, die Geschichte des Romans wird zu Ende erzählt. Business as usual, so wie im richtigen Leben. Ein zutiefst beunruhigender Abend. Text: Dagmar Ellen Fischer Schauspielhaus, 6., 27.12. und weitere Termine Schrecken als Normalität: Kristof Van Boven (l.) und Nils Kahnwald in „Das große Heft“ Tickets sichern unter reservix.de Pippo Pollina 06.03.26 Laeiszhalle Hamburg 23.04.26 Fabrik | Hamburg 11.04.26 Friedrich-Ebert-Halle Harburg | Hamburg Familienballett mit Erzähler 15.01.26 Friedrich-Ebert-Halle Harburg | Hamburg 11.02.26 Mölln 14.02.26 Bad Oldesloe 21

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