hamburg:pur Dezember 2024

Foto: A24 Heretic Drei Hauptfiguren, ein verwinkeltes Haus und existenzielle Fragen – viel mehr braucht das Regie- und Drehbuchduo Scott Beck und Bryan Woods nicht, um das Publikum auf eine unheimliche Reise zu entführen. Die Richtung gibt dabei ein wunderbar gegen den Strich besetzter Hugh Grant vor, der als Mr. Reed in seinem einsam gelegenen Haus Besuch von zwei jungen Mormoninnen erhält. Ihr Ziel: dem älteren Herrn mit der übergroßen Brille und der karierten Strickweste ihren Glauben schmackhaft machen. Anstatt sich missionieren zu lassen, setzt der Gastgeber jedoch zu einer Predigt der besonderen Art an. Schnell wird die Situation ungemütlich. Dann ist auch noch die Vordertür verschlossen. Und Mr. Reed bittet seine Besu- cherinnen, ihm zu folgen. Denn der einzige Weg nach draußen sei der Hinterausgang … „Heretic“ hat eine griffige Prämisse, hält sich nicht lange mit Charakterisierungen auf und verwendet durchaus grel- le Horrorelemente. Vor allem in der ersten Stunde entsteht aber eine wirkungsvoll gruselige Stimmung, der einige garstige Humoreinlagen beigemischt sind. Das spießige, leicht heruntergekommene Setting samt versteckter Gänge und Türen trägt ebenso zum Unbehagen bei wie die zwischen Verschrobenheit, Irrsinn und kühler Analyse schwankende Performance von Hugh Grant. Das Lachen ist zum Teil das gleiche wie in seinen romantischen Ko- mödien. Reeds Hang zum Ironischen erinnert an manche seiner Rollen aus der jüngeren Vergangenheit. Hier um- gibt den „Notting Hill“-Darsteller allerdings von Anfang an eine beunruhigende Aura. Womit Beck und Woods eben- falls überraschen: Ihr in einen Albtraum umschlagendes Kammerspiel versucht, die Zuschauer auch intellektuell ein wenig zu fordern. In pointierten Dialogen geht es im- mer wieder um die (gefährliche) Macht des Glaubens, sei- ne Bedeutung für den Menschen, den Warencharakter von Religion und Originalität. Dass der Film im Finale etwas abbaut und manche Wendungen vorauszuahnen sind, lässt sich da ganz gut verschmerzen. Text: Christopher Diekhaus AB 26. DEZEMBER USA 2024; 110 Min. R: Scott Beck, Bryan Woods. D: Hugh Grant, Sophie Thatcher, Chloe East ★★★★★ Foto: DCM FILM Here Drei Jahrzehnte nach „Forrest Gump“ überrascht US-Re- gisseur Robert Zemeckis mit einer cineastischen Exkursion besonderer Art, sein neuer Film „Here“ bricht mit der Ein- heit von Zeit, Raum und Handlung. Zur Schnittstelle der Schicksale im Verlauf von hundert Jahren entwickelt sich das geräumige Wohnzimmer einer typisch amerikanischen Vorstadtvilla. Die Bewohner wechseln, werden älter, sind ständig in Bewegung, die Kamera dagegen rührt sich nicht. Die Zeitreise über Generationen hinweg funktioniert dank digitalemDe-Aging, und so spielt der 68-jährige TomHanks anfangs einen 17-jährigen Babyboomer namens Richard, der von einer Karriere als Künstler träumt. Er taugt nicht zumRebell der Sechziger, was am Ende seine Ehe mit Mar- gret (Robin Wright) zerstört. Das Wohnzimmer bleibt emo- tionales Zentrum des Films, ob in den Roaring Twenties oder der Gegenwart, ein Kaleidoskop ständig wechselnder Gefühle, Hoffnungen, Scheitern, die erste große Liebe, Kriegstraumata. Die Verbundenheit zu Raum und Zeit ist fast körperlich spürbar, das prosaisch Alltägliche aus die- ser Perspektive berührend in seiner Unzulänglichkeit. Man- ches erinnert an Thornton Wilders Theaterstück „Unsere kleine Stadt“ aus dem Jahr 1938. „Here“ basiert auf der gleichnamigen Graphic Novel von Richard McGuire. Und Robert Zemeckis und seinemCo-Autor Eric Roth („Forrest Gump“) gelingt es, jene ästhetische Virtuosität der Graphic Novel auf die Leinwand zu übertragen. Trotz ihrer Kürze sind die zwischenmenschlichen Begegnungen intensiv, überzeugen als erzählerische Miniaturen gerade durch die scheinbar realistische Zufälligkeit. Verblüffend die Über- gänge zwischen den Zeitebenen, wenn sich Veränderungen ankündigen: Da wird ein Fernseher aus den Sechzigern zum Fenster in die Vergangenheit, verwandelt sich zum Rund- funkempfänger der Dreißigerjahre, dann erst folgt der ge- samte Raum in die nächste Epoche. „Here“ funktioniert wie unsere Erinnerung ohne Chronologie, eher willkürlich, ein Auslöser genügt. Zemeckis wie vor ihm McGuire durch- streift auf der Jagd nach dem Absurden die Jahrzehnte, manchmal auch Jahrhunderte oder gar Jahrtausende, er- zählt von historischen Umwälzungen und zeigt die Wälder vor der Kolonialisierung. Text: Anna Grillet AB 12. DEZEMBER USA 2024; 104 Min., R: Robert Zemeckis. D: Tom Hanks, Robin Wright, Paul Bettany, Kelly Reilly ★★★★★ 26 FILM Foto: Alamode Film Als die Proteste im Land nach dem gewalt­ samen Tod von Jina Mahsa Amini aufflammen, sympathisieren die jungen Frauen mit den Demonstrierenden. Spannungen in der Fami­ lie sind vorprogrammiert, zumal Iman immer paranoider und misstrauischer wird. Eines Ta­ ges verschwindet seine Dienstwaffe und die Lage spitzt sich zu. „Die Saat des heiligen Fei­ genbaums“ ist ein eindrucksvoller, mutiger und wichtiger Film, der einem schonungslos die Praktiken des iranischen Staatsapparats samt seiner Verhörmethoden vor Augen führt. Die entsättigten Bilder erzeugen ein Gefühl der Be­ klemmung, insbesondere, wenn Iman den dunklen Flur zu seinemBüro amRevolutions­ gericht entlanggeht, den Pappaufsteller von staatstreuen Beamten säumen. Das Unbeha­ gen nimmt zu durch die Montage echter Videos der brutal niedergeschlagenen Proteste aus den sozialen Medien. Im letzten Drittel jedoch richtet der Film seinen Fokus verstärkt auf den Familienkonflikt – und hat hier seine Längen, da beim Finale keine richtige Spannung auf­ kommen will. Tröstlich sind die Bilder am Ende, wieder echtes Videomaterial: Dieses Mal sind Demonstrierende zu sehen, die aufbegehren, teilweise sogar triumphieren. Text: Sirany Schümann AB 26. DEZEMBER IRAN, D, F 2024; 167 Min. R: Mohammad Rasoulof. D: Misagh Zareh, Mahsa Rostami, Setareh Maleki, Soheila Golestani ★★★★★ hamburg:pur ​ Aktion! Für eine Sondervorstellung des Films „Die Saat des heiligen Feigenbaums“ am Montag den 9. Dezember um 19.30 Uhr in den Zeise Kinos (mit Editor Andrew Bird und Produzent Mani Tilgner) verlosen wir 10 x 2 Karten. E-Mail mit Name und Betreff „pur:Feigen- baum“ an verlosung@ szene-hamburg.com ; Einsendeschluss 5.12. Die Saat des heiligen Feigenbaums Schon lange vor der Veröffentlichung entwi­ ckelte sich „Die Saat des heiligen Feigen­ baums“ zumPolitikum. Regisseur Mohammad Rasoulof konnte einer mehrjährigen Haft- strafe nur durch eine spektakuläre Flucht aus seinem Heimatland Iran entkommen. Eines seiner ersten Ziele danach: der rote Teppich in Cannes, wo die deutsche Co-Produktion als Favorit für die Goldene Palme 2024 gehandelt wurde, sie am Ende jedoch nicht gewann. Eine neue Chance gibt es vielleicht im Jahr 2025: Das Polit- und Familiendrama geht als deut­ sche Oscar-Hoffnung für den besten interna­ tionalen Film ins Rennen. Gedreht wurde aber in Iran, heimlich und unter erschwerten Bedin­ gungen. Der Film spielt sich in großen Teilen in der Wohnung einer Familie in Teheran ab. Iman (Misagh Zarah) wurde gerade zum Er­ mittlungsrichter amRevolutionsgericht beför­ dert, was seine Frau Najmeh (Soheila Goles­ tani) auf eine größere Wohnung hoffen lässt. Für die Töchter Rezvan (Mahsa Rostami) und Sana (Setareh Maleki) bedeutet die neue Posi­ tion des Vaters jedoch mehr Einschränkungen. Sie müssen darauf achten, wen sie treffen, sol­ len sich unauffällig verhalten. Anders als die strenggläubigen Eltern wachsen die beiden aber mit Smartphones und Social Media auf. Zwischen Politikum und Paranoia: Unter er- schwerten Bedingungen wurde er gedreht. Der Film von Regisseur Mohammad Rasoulof. Nun geht das Polit- und Familiendrama als Oscar-Hoffnung für den besten internationalen Film ins Rennen. Ein mutiger Film, der einem die Praktiken des iranischen Staats vor Augen führt 27

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