hamburg:pur Dezember 2022
THEATER und hat schon in vielen Kulturen die Demokra- tie scheitern sehen. Im Stück geht es aber auch um digitale Medien und künstliche Intelligenz … Wir betrachten das Ganze im Zusammenhang mit dem Internet, weil es nach unseren Re- cherchen einen großen Anteil an dieser gesell- schaftlichen Entwicklung hat. Algorithmen wie der Wahl-O-Mat analysieren unsere Meinun- gen und Interessen und sprechen Empfehlun- gen aus, auf die wir selbst vielleicht nie gekommen wären. Das heißt, der Algorithmus greift sich einen Aspekt meiner Persönlichkeit heraus und verstärkt ihn? Genau. Man sagt zwar oft: Das Netz ist schuld. Dahinter steckt aber immer die Programmie- rung eines Menschen. Außerdem kann ich mich ja selbst entscheiden, welche Informationen von mir ich ins Netz hineingebe und worauf ich anspringe. Diese Verantwortung liegt bei mir. So entscheidet sich der Sohn imStück für die Nutzung einer künstlichen Intelligenz, umwie- der mit dem Vater ins Gespräch zu kommen. Wie das? Es gibt Apps – sogenannte personal emotional dialog systems –, die einem ermöglichen, mit Verstorbenen zu sprechen. Du nimmst deine Stimme auf, und nach deinem Tod können die Hinterbliebenen weiterhin mit dir reden. Klingt verrückt. Aber in vielen eurer Produk- tionen sind die neuen Medien ja auch Teil der theatralischen Präsentationsform… In der Corona-Zeit haben wir diesen Zweig wei- ter ausgebaut und eine digitale Übersetzung von Theater geschaffen, die das Publikum in gleicher Weise involviert wie im Theatersaal. Wenn man mit einer entsprechenden Drama- turgie die Leute emotional und intensiv an Stoffe heranführt, haben sie fast das Gefühl, mit anderen Menschen gemeinsam einen Theaterabend zu erleben. Werdet ihr die Streaming-Schiene weiterver- folgen? Wenn es thematisch passt, auf jeden Fall. Toll ist, dass dann auch Leute dabei sind, die aus welchen Gründen auch immer, nicht ins Thea- ter kommen wollen oder können. Wir hatten Publikum aus Neuseeland, das sich morgens beim Frühstück unsere „Bruchlinien“ ange- guckt hat, und einen Studienkreis aus Bayreuth haben wir hinter das Sofa projiziert, als wir das Stück in meinemWohnzimmer aufgeführt ha- ben. Das war total irre. Mit dem Mixed-Abled-Festival „Aussicht“ habt ihr die aktuelle Spielzeit eröffnet. Nutzt ihr auch im inklusiven Bereich die Möglich- keiten des Digitalen? Am Ende des Festivals haben wir im Rahmen der Theaternacht sechs Produktionen gezeigt und mitgestreamt. Da gab es ganze Wohngrup- pen, die nicht hätten kommen können, sich das aber am Bildschirm angucken konnten. Wann geht es wieder zurück in die Friedens- allee? Dazu kann ich leider wenig sagen. In der Gauß- straße läuft der Mietvertrag nach zwei Jahren aus, dann kann ich ihn wohl noch um ein Jahr verlängern, bis das Gebäude laut jetzigemPlan wohl abgerissen wird. Aber der Umbau in die Friedensallee wird sich wahrscheinlich noch länger hinziehen. Eigentlich wollten wir uns mit der Sanierung weiterentwickeln und Barrieren abbauen, stattdessen sind vielen Barrieren aufgebaut worden. Probleme mit der Baubehörde? Probleme mit der Unzulänglichkeit von Leuten, die eigentlich ihren Job machen sollten. Ging der Impuls für die baulichen Verände- rungen vom Eigentümer aus? Nein, von mir. Aber der Eigentümer war einver- standen. Inzwischen sieht die Sache allerdings etwas anders aus. Ich würde jedem anraten, der eine städtisch geförderte Baumaßnahme vornehmen möchte, einen bautechnischen und juristischen Projektplaner zu Rate zu ziehen, der alle Beteiligten mit ins Boot holt. Solche Menschen werden leider nur bei größeren Pro- jekten eingesetzt. Wir mit unserer öffentlichen Förderung von 820.000 Euro sind ja eine eher kleine Hausnummer. Mit einem Bausachver- ständigen, den ich erst ein Jahr später bekom- men habe, als es schon ein riesiges Chaos gab, hätten wir uns einigen Ärger sparen können. Interview: Sören Ingwersen 15. DEZEMBER (URAUFFÜHRUNG), 16., 17. DEZEMBER, 11.–14. JANUAR 2023; monsun theater Kultur kann man nicht abschaffen. Sie ist le- benswichtig und wird definitiv überleben. Aber die Leute brauchen immer etwas, in dem sie sich verlieren können und dürfen. Etwas wo rüber sie nachdenken können, sich freuen können und wobei sie ihren Gefühlen freien Lauf lassen können. Wohlfühltheater zur Ablenkung? Nein, wir dürfen auch in die Tiefe gehen. Auch ernste Themen können wahnsinnig schön sein, zum Träumen einladen und positive Sichtwei- sen eröffnen. Kurz vor Kriegsbeginn hatte Ines Geipels „Umkämpfte Zone“ bei uns Premiere. Das war nicht ohne. Trotzdem war das Publi- kum sehr dankbar, dass es bei uns einen Raum für seine eigenen Gedanken hatte. Denn letzt- endlich geht es im Theater immer um einzelne Menschen – genau wie in unserem nächsten Stück. Die Uraufführung von Michael Alexander Mül- lers „Das Bellen der Hunde“, mit dem du als Regisseurin und Bühnenbildnerin schon meh- rere Stücke realisiert hast. Es erzählt eine universelle Geschichte zwi- schen Vater und Sohn, die nicht mehr mitein- ander sprechen können. Der Vater ist im Zwei- ten Weltkrieg aufgewachsen und wurde von seiner Lehrerin gepeinigt und geprügelt. Für ihn hat es Demokratie und Meinungsfreiheit niemals gegeben. Heute, mit 87 Jahren, driftet er in die rechte Gesinnung ab – obwohl er immer Mitte-Links gewählt hat – und spaltet dadurch die ganze Familie. Für den Sohn ist das schwer erträglich. Er arbeitet für die öffent- lich-rechtlichen Medien, ist weltweit unterwegs Foto: G2 Baraniak 18 THEATER Foto: privat Anna-Sophie Mahler Regisseurin Anna-Sophie Mahler, Sie inszenieren Johann Strauss’ beliebteste Operette unter ihrem ursprünglichen Titel „Die Rache der Fledermaus“ am Thalia Theater. Welche Anteile behalten Sie vom Original bei? Anna-Sophie Mahler: Ein großer Anteil des Originals bleibt erhalten. Wir ha- ben das Stück durch weitere Musiken und Texte erweitert, was ebenfalls bereits Tradition bei der Ope- rette selbst hat: ZumBeispiel hatte die Figur des Gefängniswär- ters Frosch schon damals den Auftrag, tagesaktuelle Themen einfließen zu lassen. Warum inszenieren Sie eine Operette mit Live-Musik und Chor an einem Sprechtheater, und was bedeutet das für Ihre Herangehensweise? Wenn man eine Operette wie „Die Fledermaus“, die teilweise virtuose Arien hat, mit Schauspielern besetzt, ist klar, dass wir in gewisser Weise limitiert sind und nur mit bestimmten Frag- menten der Musik arbeiten können – was ich jedoch als Qualität empfinde. Wenn wir ohnehin nicht das Original in Gänze machen können, dann entstehen neue Freiräume, die uns die Möglich- keit geben, die Musik der „Fledermaus“ mit heutigen Themen, neuen Texten, anderen Musiken zu konfrontieren. Sie fügen Thomas Köcks „Requiem-Manifesto der ausgestor- benen Arten“ ein. Welche Bezüge entwickeln Sie zwischen Strauss-Operette und Köck-Text? In Thomas Köcks Text „und alle tiere rufen: dieser titel rettet die welt auch nicht mehr“ geht es imWesentlichen darum, den oh- renbetäubenden Erinnerungen an Tiere, die entweder bereits durch uns ausgerottet wurden oder die aufgrund unseres Ver- haltens nie die Chance bekamen, überhaupt zu existieren, einen Klang zu geben. Wir nutzen dieses Hintergrundrauschen, den Klang dieser Tiere, um an das komische Wesen Mensch, das trotz besseren Wissens seinen eigenen Untergang nicht verhin- dern konnte, mithilfe der Operette zu erinnern. Interview: Dagmar Ellen Fischer 4., 11., 15., 26. DEZEMBER und weitere Termine; Thalia Theater Drei Fragen an … Günther Gründgens – ein Leben, zu wahr, um schön zu sein Musikalischer Festakt von Barbara Bürk und Clemens Sienknecht 31/12/Sa / 17.00-19.00 und 20.00-22.00 Yorck Dippe, Clemens Sienknecht / Foto: Matthias Horn
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