hamburg:pur - Dezember 2021
Foto: Alamode Film FILM FILMSPEKTAKEL Sturm und Gesang Regisseur Leos Carax liefert mit „Annette“ eine bildgewaltige Pop-Oper der Leidenschaften. Der Eröffnungsfilm in Cannes ist ein unvergessliches Meisterwerk, das alle Sinne bedient. Regisseur Leos Carax wurde beim Filmfest Hamburg zu Recht mit dem Douglas Sirk Preis ausgezeichnet Dunkle Dämonen quälen den Komiker. Jene hinreißende Amour fou verwandelt sich bald schon in Selbsthass, Furcht und Missgunst. Der nächste Stand-up-Auftritt gerät zum sa- distischen Seelenstrip: Detailliert schildert der Antiheld auf demPodium, wie er seine Frau zu Tode kitzelt. Das Publikum revoltiert, Miss- brauchsvorwürfe werden laut. Während eines Segeltörns stößt Henry Ann nachts in die stür- mischen Meeresfluten, um danach den selbst- losen Retter von Baby Annette zu mimen. Doch die unvergleichliche Stimme der Gattin ertönt fortan aus demMund der kleinen Tochter, die als singendes Wunderkind gnadenlos weltweit vermarktet wird. Regisseur Leos Carax („Holy Motors“) lässt das Phänomen Musical vor unseren Augen explo- dieren, rekreiert es als verstörenden, bildge- waltigen Rausch aus Farben, Tönen und ext- remsten Leidenschaften fern jeglicher forma- ler Zwänge. Der Rebell des französischen Kinos konzentriert sich dabei einmal mehr auf die düstere, destruktive Seite der Liebe. „Annette” ist sein erster Film in englischer Spra- che. Musik und Texte stammen von Ron und Russell Mael, dem Rock Duo Sparks. Der 60-jährige Regisseur durchbricht vom ersten Moment an die vierte Wand, die Grenze zwi- schen Wirklichkeit und Inszenierung löst sich auf. Ob als betörende Horror-Farce oder un- versöhnliches Schuld-und-Sühne-Drama, das Musical erfindet sich neu, wechselt ständig zwischen artifizieller Hingabe und realer Bösartigkeit, Ro- mantik, Komik und Tragik. Es fehlt jegliche Form von Ironie, Carax meint es ernst, todernst mit seiner Reflexion über Showbusi- ness, #MeToo, machtgie- rige Künstler, ein leicht manipulierbares Publikum und vor allem sich selbst. Den Film hat er seiner 16-jährigen Tochter Nas- tya gewidmet. „Annette” ist ein einzigartiges audio- visuelles Erlebnis: grotesk, poetisch, visionär, ekeler- regend, ergreifend, meis- terhaft und unvergesslich. Text: Anna Grillet AB 16. DEZEMBER F, BEL, D, USA 2021; 140 Min.; R: Leos Carax; D: Adam Driver, Marion Cotillard, Simon Helberg ★★★★★ hamburg: pur Aktion! Zur Preview des Films „Annette“ (OmU) am 13.12., 20:00 Uhr in den Zeise Kinos verlosen wir 10 x 2 Karten. E-Mail mit Name und Betreff „pur:Annette“ an verlosung@szene-hamburg.com ; Einsendeschluss: 10.12. Los Angeles, das Publikum tobt vor Begeiste- rung, wenn Stand-up-Comedian Henry McHen- ry (grandios: AdamDriver) einemBoxer ähnlich im grünen Bademantel und schwarzen Shorts die Bühne betritt. The Ape of God, wie er sich nennt, zelebriert als Magier der Massen Men- schenverachtung mit obszön animalischem Genuss. Sein Herz gehört der zarten Star sopranistin Ann (Marion Cotillard). Für die Me- dien ist das ungleiche Liebespaar und seine Heirat ein gefundenes Fressen. „We Love Each Other So Much” singen beide voller Inbrunst beimWaldspaziergang. Baby Annette kommt zur Welt, und es stockt einem der Atem bei ihrem Anblick, die hölzerne Gliederpuppe er- innert an eine Marionette – nur ohne Fäden. Ann und Henry vergöttern die Kleine. 30 31 À la Carte! – Freiheit geht durch denMagen Es ist ratsam, diesen Film nicht mit leerem Magen zu sehen, sonst läuft einem satte zwei Stunden das Wasser imMund zusammen. „À la Carte! – Freiheit geht durch den Magen“ von Éric Besnard („Bir- nenkuchen mit Lavendel“) zeigt die Geburtsstunde des „Restau- rants“ – und zeigt in leidenschaftlichen Nahaufnahmen die Kunst des Kochens. Hier wird gehackt, geknetet, gewürzt, gekocht und gebraten. Das ist nicht nur köstlich mit anzusehen, es macht auch richtig Laune, den Genuss-Guide der Szene Hamburg zu kaufen und ins nächste Restaurant zu eilen, um ansatzweise nachzuempfinden, was einem da auf der Leinwand serviert wird. Frankreich 1789. Der begnadete Koch Manceron (Grégory Gade bois) arbeitet für den Herzog de Chamfort (Benjamin Lavernhe) und verwöhnt diesen und seine adeligen Gäste mit allerhand Köstlich- keiten: Schwanen-Ragout, gebackene Täubchen, Pastete. Köstlich! Doch dann das: Der eigenwillige Küchenchef tischt seine neueste Kreation auf, nur das diese unter anderem aus der niedrigsten aller Zutaten besteht: der Kartoffel. Die feinen Herren rümpfen die Nase, ein Teller fliegt durch den Raum. Sakrileg! Der Koch verlässt ent- täuscht seinen Posten und zieht sich mit seinem Sohn zurück auf den familiären Bauernhof, wo er Suppe und Brot für die Durchrei- senden serviert. Bis eine geheimnisvolle Frau namens Louise (Isa- belle Carré) bei ihm erscheint, um bei ihm in die Lehre zu gehen. Schon bald folgt die Geburtsstunde des Restaurants. Das spricht sich rum – auch der Herzog kündigt sich an. Wird Manceron seinen Ruf wiedererlangen? „À la Carte!“ ist ein Fünf-Gänge-Menü im Filmformat, schön und bekömmlich. Mit opulenten Bildern entfacht Regisseur Éric Besnard auf der Leinwand ein Fest der Sinne. Als Zuschauer meint man förm- lich, den Duft der frisch gehackten Zwiebeln, des gegarten Gemü- ses und des sich auf demSpieß drehenden Bratens riechen zu kön- nen. Alle Rezepte stammen von den französischen Spitzenköchen Thierry Charrier und Jean-Charles Karmann. Die Hauptcharaktere sind liebenswürdig und geben dem Film eine saftige Würze. Immer wieder gibt es fein nuancierte Humorhäppchen. Doch obwohl es von Beginn an prickelt, entfaltet die Beziehung zwischen Meister und Lehrling erst mit der Zeit ihr volles Aroma. Timing ist eben alles – im Film wie in der Küche. (mag) AB 25. NOVEMBER F 2021; 112 Min.; R: Éric Besnard; D: Grégory Gadebois, Isabelle Carré, Benjamin Lavernhe ★★★★ ★ A Pure Place „Wer außen ist rein, der wird’s es auch innen sein.“ Kalendersprü- che wie dieser schallen durch die Lautsprecher über eine raue, aber idyllisch anmutende Insel irgendwo in der Ägäis. Zurückgezogen vomSchmutz der Welt leben hier die Anhänger einer Gemeinschaft, die vollkommene Reinheit anstrebt. Der in blütenweiße Anzüge ge- kleidete Anführer Fust (Sam Louwyck) predigt den an seinen Lippen hängenden Schäfchen vom paradiesischen Zielort Elysium, lässt allerdings in einem schäbigen Kellersystem verdreckte Kinder für sich und seine Auserwählten schuften. Tagein, tagaus sind Irina (Greta Bohacek) und ihr Bruder Paul (Claude Heinrich) zusammen mit anderen Leidensgenossen damit beschäftigt, eine besondere Seife herzustellen, die regelmäßig auf dem Festland verkauft wird. Als Fust Irina in seinen engsten Kreis aufnimmt, beginnt das Gefü- ge der abgeschotteten Gruppe zu bröckeln. Vom düsteren und hermetischen Szenario seines schaurig-grotesken Spielfilmdebüts „Der Bunker“ begibt sich Regisseur und Drehbuch- autor Nikias Chryssos mit seinem zweiten Werk in ein sonnendurch- flutetes Setting. Dennoch macht sich auch an diesem vermeintlich so malerischen, unbeschwerten Ort eine Beklemmung breit, die aus der streng hierarchischen Sektenstruktur entspringt. „A Pure Place“ ist auf der Oberfläche ein die Mechanismen der Verführung be- schreibendes Drama mit Thriller-Elementen, greift jedoch dank hyp- notischer Bilder und einer flirrenden Musikuntermalung schon früh in märchenhaft-entrückte Sphären aus. Leider kann sich der mit vielen mythologischen Bezügen angereicherte, in seinem Verlauf ein wenig vorhersehbare Film nicht richtig entscheiden, ob er nun die an die Hänsel-und-Gretel-Geschichte angelehnte Emanzipation der Geschwister Irina und Paul oder aber den von Sam Louwyck charismatisch verkörperten Guru in den Mittelpunkt stellen soll. Etwas mehr Entschlossenheit wäre hier durchaus wünschenswert gewesen. (cd) AB 25. NOVEMBER D 2021; 90 Min.; R: Nikias Chryssos; D: Sam Louwyck, Greta Bohacek, Claude Heinrich ★★★ ★★ FILM Foto: Neue Visionen Foto: Koch Films
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