Dezember 2019
45 Was kann das Stück erreichen? Eine Annäherung an die Menschen und ihre Le- bensrealitäten. Es ist eine Familiengeschichte über drei Generationen. Wenn wir ihre Konflikte für das Publikum zugänglicher machen und die Zuschauer Empathie entwickeln und alle ernst nehmen, egal welche politische Haltung sie ver- treten, dann wird das Persönliche auch politisch. „Vögel“ steht in Deutschland in rund 20 Thea- tern auf dem Spielplan. Bei anderen Inszenie- rungen werden – wie auch in der Vorlage – oft die Länge und zu plattes Pathos kritisiert. Än- derst du die Vorlage? Das Stück ist wirklich lang, mit vielen Monolo- gen. Unsere Inszenierung wird kürzer und kom- pakter. Wir haben uns für eine klare Geschich- tenentwicklung entschieden, in der Vorlage gibt es viele Verschachtelungen durch Rückblenden. Eine andere Sache: Wenn man das Pathos, die große Schwere des Stücks ein bisschen heraus- nimmt und stattdessen die Menschen ansieht und sich ihnen liebevoll annähert, dann erkennt man, dass sie alle einen starken Kern in sich haben, der sie auszeichnet. Ich versuche, diesen Kern herauszuarbeiten. Gibt es Dinge in der Vorlage, die dich stören? Ja. Die arabisch-amerikanische Figur wird sehr oft auf ihr Aussehen reduziert. Wahida soll eine sehr hübsche Frau sein, der junge Wissenschaft- ler Eitan verliebt sich in sie und sie werden ein Paar. Sie wird in jeder Szene auf etwas reduziert, was sie von außen betrachtet plakativ und ein dimensional erscheinen lässt. Ich versuche, diese Figur stärker und selbstbewusster zu machen. Überhaupt möchte ich den Frauenfiguren mehr Raum und Selbstbewusstsein geben. Abschließend: Warummuss die Liebesgeschichte eigentlich scheitern? Ich glaube nicht, dass dieses Paar sich trennt. Sie lieben sich, im Vergleich zu allen anderen Fi- guren in diesem Stück haben sie wirklich Liebe als Hauptmotor. Eitan akzeptiert Wahidas Ent- scheidung, in Ramallah zu bleiben, die ich als großen politischen Akt sehe, weil sie ihre klei- ne Rolle in dem jüdischen männlichen Narrativ Eitans ablehnt. Sie behält ihre amerikanisch-ara- bische Identität, aber begibt sich auf die Suche nach ihrer Herkunft. Sie will die Hauptrolle in ihrer eigenen Geschichte finden. Interview: Ulrich Thiele AB 7. DEZEMBER Thalia Gauß Foto: Esra Rothoff Um alles in der Welt – Lessingtage 18. Januar bis 9. Februar 2020 thalia-theater.de/lessingtage
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