hamburg:pur November 2024

Foto: Ulrich Seidl Filmproduktion/Heimatfilm Foto: Nemesis Films inc FILM Red Rooms – Zeugin des Bösen Eine junge Frau übernachtet auf einem Bürgersteig in der kana- dischen Metropole Montreal. Kelly-Anne (Juliette Gariépy) ist aber keineswegs obdachlos, sondern ein gefragtes Model und neben- bei ein Ass im Online-Poker. Der Grund für ihr unbehagliches Nachtlager: Als „früher Vogel“ will sie einen der wenigen öffent- lichen Plätze in einem Gerichtsprozess ergattern, der die Stadt erschüttert: Der Serienkiller Ludovic Chevalier soll drei Teenager- Mädchen entführt und in seiner Garage zu Tode gefoltert haben. Seine Untaten stellte er als Livestream ins Darknet. Kelly-Anne ist magnetisch angezogen von dem unscheinbaren Mann, der in einer gläsernen Zelle imGerichtssaal hockt und sei- nen Prozess scheinbar ungerührt verfolgt. Extra aus der Provinz angereist, verpasst auch die verhuschte Clementine (Laurie Ba- bin) keinen Prozesstag. Den gebeutelten Angehörigen der Opfer sind Chevaliers „Fangirls“ ein Dorn im Auge. Von allen verachtet, solidarisieren sich die beiden gestörten Seelen. Kelly-Anne lässt Clementine, die in der Stadt keine Bleibe hat, bei sich übernach- ten. Doch langsam befallen Clementine Zweifel über die wahren Motive ihrer Gönnerin: Besucht Kelly-Anne den Gerichtssaal wirk- lich nur als Zaungast, oder verbindet sie in Wahrheit mehr mit demMonster auf der Anklagebank? Der kanadische Regisseur Pascal Plante inszeniert seine ein- drucksvolle, bis zum Ende kryptische Charakterstudie mit äu- ßerster stilistischer Kälte. Das Grauen lauert hier stets unter polier- ten Oberflächen, ob im nüchternen Gerichtssaal oder im seltsam sterilen Luxus-Apartment der Protagonistin. Den unvorstellbaren Horror der ominösen Snuff-Movies kann der Kinozuschauer nur den grausigen Beschreibungen der Staatsanwältin entnehmen, oder ihn im rot angestrahlten Gesicht Kelly-Annes erahnen, wenn die das abartige Treiben des Killers in seinem „Red Room“ ge- bannt vor dem heimischen Bildschirm verfolgt. Dass wir nur mit- hören, aber nicht mitgucken dürfen, erzeugt umso schlimmeres Kopfkino. Bitte Vorsicht: Dies ist ein Film, der einen noch lange verfolgt – ob man nun will oder nicht. Text: Calle Claus AB 7. NOVEMBER KAN 2023; 118 Min; R: Pascal Plante; D: Juliette Gariépy, Laurie Babin, Maxwell McCabe-Lokos, Elisabeth Locas ★★★★★ Des Teufels Bad Menschliche Abgründe und gruselige Stimmungen interessieren das Regieduo Veronika Franz und Severin Fiala in besonderem Maße. Mit dem Psychothriller „Ich seh, ich seh“ sorgten die Ehe- frau des österreichischen Filmemachers Ulrich Seidl und dessen Neffe für internationales Aufsehen. ImAnschluss drehten die bei- den mehrere englischsprachige Horrorprojekte, darunter zwei Folgen der von M. Night Shyamalan mitproduzierten Apple-Serie „Servant“. Auch ihr neues Werk „Des Teufels Bad“ spielt mit un- heimlichen Elementen. Das Ergebnis ist aber ein spröderer Film, der sich nicht den Genregesetzmäßigkeiten, sondern seinen we- nig bekannten historischen Hintergründen verpflichtet fühlt. Im Mittelpunkt: Eine gläubige junge Frau namens Agnes, die im Jahr 1750 mit ihrem Ehemann zusammenzieht und von diesem Zeitpunkt an unter enormem Erwartungsdruck steht. Aufopfe- rungsvoll soll sie ihren Gatten umsorgen und ihm alsbald ein Kind schenken. So verlangt es ihre argwöhnische Schwiegermutter. Doch wie soll das gehen, wenn deren Sohn kein sexuelles Inte­ resse an Agnes zeigt? In ihrem Bemühen, es ihrer Umwelt recht zu machen, entwickelt sie eine Depression. Die scharfen Worte eines Priesters weisen Agnes schließlich einen Weg, ihrer wach- sende Todessehnsucht nachzugeben, ohne auf die Erlösung ihrer Seele verzichten zu müssen. „Des Teufels Bad“ – eine einstige Bezeichnung für den Zustand der Melancholie – nimmt sich sehr viel Zeit, um den von patriar- chalen Unterdrückungsstrukturen geprägten Alltag der Protago- nistin zu illustrieren. Mit beinahe dokumentarischemBlick zeich- net das Regiegespann die kleinen, teils wiederkehrenden Demü- tigungen und Rückschläge nach, die Agnes langsam aus der Bahn werfen. Martin Gschlachts erdige Bilder verpassen demGesche- hen dabei einen bedrückend realistischen Anstrich. Unter die Haut geht das auf historischen Gerichtsakten basierende Drama vor allem gegen Ende, wenn Hauptdarstellerin Anja Plaschg das ganze Leid ihrer Figur in einer einzigen Szene verdichtet. Text: Christopher Diekhaus AB 14. NOVEMBER D, AT, 2024; 121 Min.; R: Severin Fiala, Veronika Franz; D: Anja Plaschg, David Scheid, Maria Hofstätter ★★★★★ 26 27 Foto: Neue Visionen Filmverleih/Wild Bunch Germany Emilia Pérez Die ambitionierte Strafverteidigerin Rita Castro (Zoe Saldana) ver­ tritt in Mexico City Klienten, die für Drogenkartelle arbeiten. Sie hadert mit ihremmoralisch fragwürdigen Broterwerb. Dann erhält sie ein anonymes Jobangebot. An einem geheimen Treffpunkt sitzt ihr der gefürchtete Kartellboss Manitas del Monte gegen­ über. Das Narbengesicht mit dem Goldgrillgebiss trägt mit Reib­ eisenstimme einen überraschenden Wunsch vor: Er möchte eine Frau werden. Rita reagiert skeptisch. Dass Drogenkriminelle sich durch plastische Chirurgie polizeilicher Erkennung entziehen wol­ len, ist nichts Neues. Doch bei Manitas scheinen die Dinge anders zu liegen, unterzieht er sich doch bereits einer geschlechts­ angleichenden Hormontherapie. Rita soll seine geheime Verwand­ lung nun offiziell abwickeln. Von einem üppigen Honorar gelockt, willigt sie ein. Über die Medien streut sie das Gerücht, Manitas sei exekutiert worden. Die ahnungslose Gattin Jessi (Selena Go­ mez) und ihre zwei kleinen Söhne siedeln in die sichere Schweiz über. Nach erfolgreicher Operation beginnt Manitas unter seinem neuen Namen Emilia Pérez sein zweites Leben. Doch die Vergan­ genheit lässt Emilia keine Ruhe. Schuldgefühle angesichts des Leids ihrer einstigen Opfer plagen sie, hinzu kommt die Sehnsucht nach Jessi und den Kindern. So dauert es nicht lang, bis Rita er­ neut aktiviert wird. Der neue Film von Jacques Audiard pendelt irgendwo zwischen Melodrama, Sozialkritik und Telenovela. Das Märchen über Schuld und Sühne wird von einer famosen Hauptdarstellerin getragen. Karla Sofía Gascón wurde in Cannes jüngst als erste Transfrau mit demPreis für die beste Darstellerin geehrt. Sie überzeugt so­ wohl als finsterer Drogenbaron wie auch als glamouröser Schmet­ terling, als der dieser sich entpuppt. Eigentlicher Clou des Films sind aber die verblüffend organisch eingestreuten Musicalnum­ mern, mit denen die Handlung gespickt ist. Gesprochene Dialoge entwickeln sich plötzlich zu Songs. Das ist mal ergreifend, mal ganz schön cheesy, aber immer auf den Punkt. Bombe! Text: Calle Claus AB 28. NOVEMBER F 2023; 130 Min; R: Jacques Audiard; D: Zoe Saldana, Karla Sofía Gascón, Selena Gomez ★★★★★ Foto: Focus Features FILM Konklave Der Papst ist tot. Unter der Leitung von Kardinal Thomas Law­ rence (Ralph Fiennes) finden sich daher alle wahlberechtigten Kardinäle im Konklave in Rom ein, um ein neues Oberhaupt der katholischen Kirche zu bestimmen. Es gibt zwei Favoriten auf das Amt: einerseits der konservative italienische Kardinal Tedesco (Sergio Castellitto), andererseits der progressive Amerikaner Kardinal Bellini (Stanley Tucci). Doch auch der alteingesessene Kardinal Tremblay (John Lithgow), der aufstrebende nigerianische Kardinal Adeyemi (Lucian Msamati) und ein mysteriöser Kardinal aus Mexiko (Carlos Diehz) scheinen das Feld aufzumischen. Die Umstände des Konklaves formen so den perfekten Rahmen für ein Kammerspiel: Abgeschirmt von der Außenwelt bringen die Spieler ihre Figuren auf dem Schachbrett der Papstwahl in Stel­ lung. Es folgen Machtkämpfe, Intrigen und Enthüllungen von Ge­ heimnissen, die Regisseur Edward Berger in beeindruckenden Bildern und unterlegt von aufbrausenden Streichern stilvoll in­ szeniert. So ominös und heilig die Veranstaltung des Konklaves auch sein mag, so ordinär, so weltlich und scheinheilig sind die Menschen, die ihr beiwohnen: Ein Kardinal scrollt abwesend auf seinem Smartphone herum und Kardinal Tedesco kann es nicht lassen, unentwegt an seiner Vape zu ziehen. Die Moderne steht nicht vor der Tür, sie ist schon längst da, wie alle Beteiligten spä­ testens im letzten Drittel des Films mit Wucht feststellen müssen. Der Clash von der traditionsträchtigen Kirche und der modernen Welt wird immer wieder angedeutet und wirft viele interessante Fragen auf: Welchen Wert hätte der erste schwarze Papst, wenn er homophob ist? Wo ist der Platz von Frauen in der katholischen Kirche? Was bleibt von ihr letztlich übrig, wenn sie ihre aus der Zeit gefallene Tradition immer mehr verliert? Und letztlich: Wer braucht sie eigentlich überhaupt noch? Konkrete Antworten auf diese Fragen liefert der Film nicht, ab sie schwingen mit. Der fi­ nale Twist lässt den Zuschauer allerdings etwas ratlos zurück – kommt er doch ein bisschen zu spät, um der Geschichte noch etwas Interessantes hinzuzufügen. Text: Stella Czolbe AB 21. NOVEMBER GB, USA 2024; 120 Min.; R: Edward Berger; D: Ralph Fiennes, Stanley Tucci, Isabella Rossellini ★★★★★

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