hamburg:pur November 2024
Foto: Pascal Bünning FILM LILITH STANGENBERG „Ichwar ergriffen von diesem Mut “ Spätestens seit „Wild“ von Nicolette Krebitz aus dem Jahr 2016 hatte man das Gefühl, am hiesigen Schauspielhimmel ist ein neuer Stern aufgegangen. Lilith Stangenberg wirkte so frisch, so echt, so anders. Und das tut sie nun auch in ihrem neuen Film „Haltlos“. Ein Gespräch mit der Berlinerin über Gefühle, den Sog der Düsternis und grundlegende Probleme des deutschen Kinos „Das hat mich extrem interessiert“: „Haltlos“-Star Lilith Stangenberg Lilith, kannst du dich noch daran erin- nern, als du das Drehbuch von „Haltlos“ zum ersten Mal gelesen hast? Was ist dir da durch den Kopf gegangen? Lilith Stangenberg: Das war sehr speziell. Ich war gerade mit einem albanischen Film in Sarajevo beim Filmfestival, das wegen eines Mordfalls einen Tag lang unterbrochen werden musste. Nur des- halb hatte ich überhaupt Zeit, das Dreh- buch so schnell zu lesen. Ich hatte aber nach dreißig Seiten schon eine sehr be- wusste Fantasie davon, wie ich diese 22 FILM man dann auch als Privatperson behält; viel leicht ein Temperament oder eine Dynamik oder eine Haltung, eine Stimmlage, eine Art und Weise zu lachen oder so, die du auf einmal in deinem Vokabular als Mensch übernimmst. Wenn bestimmte innere Türen oder Fenster erst mal geöffnet sind, sind die da, und können schnell wieder aufgestoßen werden. Inwiefern hat dich denn die Rolle in „Haltlos“ verändert? Gab es bestimmte Türen, die du dadurch aufgestoßen hast? Spannend war auf jeden Fall, dass sich beim Dreh manchmal die Ebenen vermischt haben. Es gibt eine Szene, in der Martha im Kranken haus liegt und weint. Ich habe das ganz gut ge spielt, dann war Cut und Umbaupause. Plötz lich musste ich aber wieder ganz doll anfangen zu weinen, es ging einfach weiter, aber noch realer. Kida hatte dann den Mut, die Kamera zurückzuholen – und dadurch eine fast unspiel bare Not einzufangen. So als hätten sich da die Ebenen verschoben. Deshalb empfinde ich die sen Film als Seelenstriptease. Gab es mal ein Projekt, aus demdu als ande- rer Mensch rausgegangen bist – oder dass dich zumindest stark verändert hat? „Wild“ zu drehen hat mich fundamental geprägt. Ich wäre heute nicht derselbe Mensch, wenn ich den Film damals nicht gemacht hätte. Das hat mit einer bestimmten Weiblichkeit zu tun, mit einer Purheit, mit einer Nacktheit im emo tionalen Sinne, die ich da zum ersten Mal er lebt habe – zumindest in beruflicher Hinsicht. Vorher habe ich ja vor allem Theater gespielt, das ist in der Wirkung ein viel glamouröserer Ort, da wird immer viel maskiert. Bei „Wild“ musste ich aber sämtliche Masken ablegen. Als Zuschauer muss man in „Haltlos“ sehr viel aushalten. Man wird vomSchnitt oft ewig nicht erlöst, die Kamera sieht immer hin, gönnt einem keine Ruhe. Wie hast du das wahrgenommen? Für mich ist das generell immer eine Art Gol gathaweg, mir einen Film von mir anzusehen. Ich war aber ergriffen von diesemMut; von dem, was da passiert. Martha befindet sich ja in so einem seelischen Reizzustand, in so einer schi zophrenen Emotionalität – und sich in so ein großes Gefühl vorzuwagen, das trauen sich halt wenige Filme hier in Deutschland. Ich habe gro ßen Respekt dafür, wenn das Gefühl wichtiger wird als der Verstand. Interview: Daniel Schieferdecker AB 24. OKTOBER D 2024; 93 Min.; R: Kida Khodr Ramadan; D: Lilith Stangenberg, Samuel Schneider, Jeanette Hain ★★★★★ Rolle spielen würde; und das, obwohl mir das Drehbuch gar nicht in Gänze gefallen hat. Aber ich habe darin etwas gefunden, das mich total angezogen hat: dieses bedingungslose Inte resse des Drehbuchs an dieser Frau und ihren Konflikt – das hat mich extrem interessiert. Das gibt es ja nicht so oft, dass man so eine bestimmte Energie einen ganzen Film lang ver teidigen darf. Welches sind denn für dich generell die aus- schlaggebenden Kriterien, um dich für oder gegen ein Filmprojekt zu entscheiden? Zum einen gucke ich, ob ich mich handwerk lich dazu in der Lage sehe, eine Rolle zu spie len. Zum anderen geht es darum, ob ich die Rolle spielen will – das ist meist eine sehr in stinktive Angelegenheit. Gerade übe ich aber, eine bestimmte Form von Hygiene in meiner Rollenauswahl zu etablieren. Wie meinst du das? In den letzten Jahren habe ich mich oft mit sehr düsteren Themen beschäftigt. Das kann man natürlich alles in sich reinlassen, aber es muss eben auch wieder raus. Das gelingt einem aber nicht immer, und das tut einem auf Dauer nicht gut. Ich glaube durchaus an Katharsis; an eine Art Reinigung, die wir als Schauspieler stellvertretend für andere übernehmen. Des halb empfinde ich diesen Beruf auch als so wertvoll, weil wir dadurch die Köpfe und Her zen der Zuschauer öffnen. Aber gibt es denn wirklich Rollen, die du nicht spielen könntest? Eine Rolle in „Fack ju Göhte“ könnte ich mir gerade nicht vorstellen zu spielen, glaube ich. Das klingt aber eher so, als ob das mehr mit einer inneren Abneigung und weniger mit dem fehlenden handwerklichen Können zu tun hat, meinst du nicht? Ja, mag sein. Oft das ja auch an ein Bauchge fühl gekoppelt, an eine Lust. Und daran, ob ich mich schnell langweilen oder dafür schämen würde. Ich mag ja das Geschmacklose, das Abwegige sehr. Ist mir näher als der gute wohl dosierte Geschmack. Du hast eben erwähnt, dass du zuletzt eher düstere Projekte umgesetzt hast. Woher kam das Bedürfnis dazu? Ich weiß gar nicht, wann das angefangen hat. Aber irgendwann war das wie ein Sog, der mich immer tiefer mitgerissen hat. Mich hat es im mer mehr zu abseitigen Stoffen und Autoren hingezogen; ich habe auch viele Filme geguckt, die eine Reise in die Düsternis skizzieren – viel koreanisches und japanisches Kino, wo man sich ganz anders an Abgründe und Exzesse rantraut als wir das in Europa kennen. Ich habe das regelrecht studiert. Weiß auch nicht, wo das herkam. Hat dich dieses Dunkle denn immer schon interessiert? Zumindest die Dinge, die man nicht immer gleich in Worte packen und rational-mathe matisch erklären kann; die man nicht auf An hieb versteht. Für die Lücken. Auch als junges Mädchen mochte ich immer schon Filme, die mir Freiräume lassen, weil da meine Fantasie und meine Gefühle sprudeln. Ich mag es nicht, wenn alles komplett ausformuliert und einem mundgerecht serviert wird – daran krankt ja auch der deutsche Film. Da wird immer alles komplett ausgeleuchtet, da gibt es keine Schatten, nichts Enigmatisches, wenig Ge heimnisse. Den Zuschauern wird sogar einge trichtert, was sie über den Film zu denken ha ben. Ich bezweifle aber, dass die Leute das wollen. Deswegen mag ja kaum einer die deut schen Filme. Kida hatte, nachdem er das Drehbuch ge- lesen hat, Zweifel, ob er als Mann diese Ge- schichte einer Frau erzählen kann, in der es eben auch viel umdas Verständnis vonWeib- lichkeit undMutterschaft geht. Hatte der Um- stand, dass er als Mann diesen Film insze- niert hat, einen Einfluss auf dich? Bei unserem ersten Treffen hat er mir gesagt, dass er fünf Töchter habe und ihn dieses Dreh buch deshalb so berührt. Für mich war das ebenfalls ein Thema. Ich bin zwar selbst noch keine Mutter, habe aber sehr viele Schwestern, und da gab es immer irgendeine, die gerade schwanger war oder ein Baby dabei hatte. Na turgemäß hat Kida schon einen sehr männ lichen Blick auf meine Figur, stellt sie auf eine Art Sockel. Aber er hat mich wahnsinnig ernst genommen beimDrehen und komplett auf Au genhöhe mit mir gearbeitet, sodass wir zu einer großen Direktheit gelangt sind. Wir kommen beide aus Kreuzberg und ich mag, wie wir dieses komplexe Thema mit dieser Energie der Straße erzählt haben. Mir gefällt dieses Raue daran. Der Film ist zwar sehr rau, gleichzeitig aber auch aufgeladen mit ganz vielen Gefühlen. Kida ist Libanese und durch diesen orienta lischen Einfluss wahrscheinlich viel weniger verkopft als die meisten Europäer. Der denkt mehr aus demBauch heraus, aus demHerzen. Kida hat keine Angst vor Gefühlen. Durch diese Leidenschaft, die er mitbringt, habe ich mich getraut, sehr weit einzutauchen und aufzuma chen und habe zum Teil Zustände gespielt, wie ich es mich noch nie vorher vor einer Kamera getraut habe. Verändern dich manche Rollen auch mensch- lich? Zumindest insofern, als dass man sich im Schauspiel manchmal Dinge erarbeitet, die 23
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