hamburg:pur November 2023

THEATER einerseits ermutigt loszulassen, sich etwas zu trauen und nicht zu viel zu reflektieren. Weil ihr wachsames Auge aufpasst, wenn man sich vertut. Für mich ist das eine sehr wohltuende, erfüllende Zusammenarbeit, auch weil ich die letzten Jahre mit sehr experimentellen Ex­ tremkünstlern zusammengearbeitet habe und meistens auf mich allein gestellt war. Außer­ dem sind ein weiblicher Blick und die epische Kraft ihrer Arbeit für „Antigone“ sehr spannend. Zuletzt warst du imAugust 2022 zusammen mit Skandalkünstler Paul McCarthy in der nicht jugendfreien Performance „A&E / Adolf & Eva / Adam & Eve / Hamburg“ über die sa- domasochistische Beziehung Adolf Hitlers zu Eva Braun am Schauspielhaus zu sehen. Danach sprach die Presse angesichts der schonungslosen Exzesse auf der Bühne von einer „Vergewaltigung der Sinne“. Verletzen dich solche Worte? Früher habe ich mir Kritiken mimosenhaft sehr zu Herzen genommen, aber seit etwa zehn Jah­ ren beschäftige ich mich kaum noch damit und bin in dieser Zeit, glaube ich, eine viel unab­ hängigere Schauspielerin geworden. Wenn ich zu viel Wert auf die Presse- und Publikums­ reaktionen legen würde, könnte ich so eine Arbeit auch gar nicht machen. Natürlich möchte jeder Mensch gefallen und geliebt werden. Aber wenn man das einmal überwindet und eher etwas für sich selber tut, wird man freier, was für die Kunst sehr wichtig ist. Viele Menschen würden einem Projekt wie „Adolf & Eva“ womöglich den Kunststatus absprechen … Dass so ein Stoff, an demwir dreieinhalb Jahre gearbeitet haben, in einem „normalen“ Thea­ ter auf viel Ablehnung und Widerspruch trifft und auch im deutschen Feuilleton nicht be­ sonders gut ankommt, wundert mich über­ haupt nicht. Mit wundert eher, wie einfach es sich manche Leute machen, wenn sie die Figuren gleich als perversen alten Nazi und als Schlampe abqualifizieren. Da wird gar nicht erst versucht, die philosophische Dimension zu betrachten. Paul kommt ja von der Malerei her. In den Gemälden von Velásquez oder Goya geht es immer um Mord und Totschlag, Blut, Brutalität und Erotik. Vor demHintergrund die­ ser Tradition haben wir versucht, die Sprache und Poesie beispielsweise eines Marquis de Sade in Bilder zu übersetzen. Wenn ich aber darüber nachdenke, was wir bei „Adolf & Eva“ gemacht haben, überrascht es mich immer noch, dass das stattfinden durfte, dass wir so weit gehen konnten und ich jetzt immer noch auftreten darf. Die Zeiten der Theaterzensur sind ja zum Glück vorbei … Obwohl sich das durch die derzeitige gesell­ schaftliche Bewegung auch verändert hat. Be­ sonders bei der jüngeren Generation fällt mir eine Überreflektiertheit auf. Alle wollen immer alles richtig machen. Manchmal vernebelt das einem den Kopf. Ich glaube, Brecht hat einmal gesagt, wenn man alle Stücke von Schamlo­ sigkeit befreit, kreiert man nicht die besseren Stücke, sondern die dümmeren Zuschauer. Die Pisse und Kacke, da wo es stinkt und wehtut, der Schmerz, Wahnsinn und Tod – das sind doch eigentlich die Momente, in denen es in­ teressant wird. Wie fruchtbar kann die künst­ lerische Auseinandersetzung sein, wenn man das alles von vorherein ausklammert? ImVorfeld der Aufführung von „Adolf & Eva“ hast du von der kathartischen Wirkung des Theaters gesprochen. Nach der altgriechi- schen Dramentheorie soll das Bühnenspiel eine „reinigende“ Wirkung auf das Publikum ausüben, es von Ängsten befreien und seine Leidenschaften kanalisieren. Gilt das auch für dich als Schauspielerin? Ich bin überzeugt, dass die Begegnung zwi­ schen Publikum und Bühne etwas Erotisches hat. Walter Benjamin hat einmal gesagt: Die alte Tragödie ist wie ein Film, und der Zuschauer- raum ist der Entwickler. Es geht also wirklich umChemie und Alchemie. Von den Prozessen auf der Bühne sind Zuschauer und Schauspie­ ler gleichermaßen betroffen. Deshalb habe ich mit Blick auf die sehr extremen Arbeiten der letzten Jahre auch oft von einem Exorzismus gesprochen. Als würde man sich diesen dunk­ len Themen für den Moment ausliefern, um dann privat davon entlastet zu werden. Es gibt aber einen Punkt, an dem ich nicht mehr ge­ nau zwischen Realität und Spiel unterscheiden kann. Die Felder vermischen sich, deshalb muss man „hygienisch“ sein in der Wahl der Stoffe, denen man sich aussetzt. Interview: Sören Ingwersen 10. NOVEMBER (URAUFFÜHRUNG), 12. NOVEMBER / ANTHROPOLIS- MARATHON: 19. NOVEMBER UND WEITERE TERMINE; Deutsches Schauspielhaus Wir arbeiten ja mit den Übersetzungen von Ro­ land Schimmelpfennig, die mir sehr ungefiltert vorkommen. Die Texte haben nichts Geschwol­ lenes oder Fremdartiges mehr. Wemwürde man nach heutigenWertvorstel- lungen recht geben: Antigone, die gegen das staatliche Verbot ihren Bruder begräbt, oder König Kreon, für den Gesetz und Ordnung das Maß aller Dinge sind? Wir versuchen, die Positionen von Antigone und Kreon, zwischen altem und neuem Recht, Frau und Mann, Jugend und Alter so ambi­ valent und komplex wie möglich herauszu­ arbeiten. Die Entscheidung, mit welcher Figur ich mitgehe, soll einem kompliziert gemacht werden. Was reizt dich an der Figur der Antigone? Dass sie nicht ideologisch, sondern sehr sub­ jektiv und widersprüchlich ist. Mit ihrer ganz individuellen Position stellt sie sich gegen die Autorität. Dass sie so unbeugsam und kom­ promisslos ist und einfach tut, was sie für rich­ tig hält, ist ein wichtiges Signal für die Gesell­ schaft. Auch wenn solche Störenfriede und Querulanten uns nerven, sind sie politisch relevant. Die Ordnung braucht das Chaos. Um sich die Menschlichkeit zu bewahren? Ich glaube, jeder Mensch ist auf eine bestimmte Art verrückt. Alle Menschen widersprechen sich und handeln oft sinnlos. In den Helden­ geschichten des Hollywood-Kinos wird immer versucht, das zu glätten, wodurch die Zerris­ senheit und die Doppelnatur des Menschen auf der Strecke bleibt. Dagegen stehen die Figuren in den alten Stücken wie Skelette vor einen, in die man ganz viel hineininterpretieren kann. Man sollte aber aufpassen, dass man sie nicht zu vernünftig spielt, weil das Werte­ verständnis damals ein ganz anderes war. Worin besteht Antigones „Verrücktheit“? Sie hat einen fast ekstatischen Blick auf den Tod, eine fast suizidale Bereitschaft, für ihre Überzeugung zu sterben. Das finde ich faszi­ nierend. Vielleicht gibt es eine Form des vererbten Narzissmus bei ihr. Als Tochter von Ödipus stammt sie ja aus einem Königsge­ schlecht. Außerdem ist sie ein Inzest-Kind. Da kommt schon sehr viel zusammen. Du arbeitest das erste Mal mit Karin Beier zusammen. Wie würdest du sie als Regisseu- rin beschreiben? Sie lässt mir sehr viel Freiheit auf der Bühne, passt aber andererseits wie ein Wachhund auf, dass ich mich nicht verirre. Dadurch wird man 18 Foto: Birgit Hupfeld THEATER Sonne/Luft Elfriede Jelinek besingt den Weltuntergang Die Natur schlägt zurück – der Satz wird gern bemüht, um die globalen Veränderungen der Lebensbedingungen auf unserem Planeten zu erklären. Darüber lacht Elfriede Je- linek: Sie ist sicher, dass die Natur den Menschen gar nicht wahrnimmt, denn sie wird noch da sein, wenn wir es längst geschafft haben, die Erde unbewohnbar zu machen. Ra- dikal, lautstark warnend und mit der für sie typischen Sprach-Jonglage nimmt die Literaturnobelpreisträgerin in ihrem jüngsten Text Stellung zur Klimakrise – ohne das Wort überhaupt zu benutzen. In „Sonne/Luft“ gibt sie der personifizierten Sonne eine Stimme, die sich so quasi ein- brennt, während die Luft als mehrstimmiger Chor präsent ist. Als Referenz an die Lebenswelt der griechischen An- tike reden auch Eos und Selene – Göttinnen der Morgen- röte und des Mondes – ein Wörtchen beimWeltuntergang mit. (def) 8.11. (PREMIERE), 14., 21., 25. NOVEMBER UND WEITERE TERMINE; Thalia Gauss Foto: Sinje Hasheider EINE STUNDE RUHE KOMÖDIE VON FLORIAN ZELLER 5.11.2023 – 13.1.2024 OP PLATTDÜÜTSCH & HOCHDEUTSCH

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