hamburg:pur November 2022

Foto: Armin Smailovic THEATER Was war Ihr erster Eindruck vom Text? Den Text haben wir am ersten Probentag be­ kommen. Wir konnten uns also überhaupt nicht vorbereiten und haben das Stück dann alle gemeinsam zu ersten Mal gelesen. Dadurch entwickelte sich eine ganz eigene Dynamik der Vorfreude auf das, was man später auf der Bühne tun würde. Wurde der Text während der Probenzeit ver- ändert? Bei Autor-Regisseuren wie René Pol- lesch entwickelt sich ja noch vieles während des Spiels. Nein, es geht hier überhaupt nicht um wilde Improvisation und Situationskomik. Der Humor entsteht aus der Skurrilität des Textes und der Eigenartigkeit der Konstellationen auf der Bühne. Es klingt auch nach großem Vertrauen dem Regisseur gegenüber, wenn man sich als Schauspieler auf eine Inszenierung einlässt, deren Text man noch gar nicht kennt. Dieses Vertrauen geht weit über den Text hi­ naus. Ich mache hin und wieder mit Lensing einen Spaziergang durch Berlin. Weil er ein sehr religiöser Mensch ist, setzen wir uns auchmal in eine Kirche. Dann erklärt er mir die Glaubens­ geschichten, weil ich als Atheist aus dem Os­ ten das Bedürfnis habe, da tiefer einzusteigen. Man begegnet sich also auch neben der Arbeit. Das ist uns allen, denke ich, sehr wichtig. Klingt diese Religiosität auch im Stücktitel „Verrückt nach Trost“ an? Die Kirche ist ja von jeher eine zentrale Instanz, wenn es darum geht, Trost zu spenden. Trost zu empfangen, ist eine Grundverabre­ dung in einer hoch sozialisierten Gesellschaft. „Nicht mehr bei Trost sein“ heißt ganz einfach „verrückt werden“. Weil der Trost wegfällt, ist auf einmal eine Grundangst vorhanden. Das ist ein Gegenentwurf zu unserer gewohnten Welt. Dann tauchen am Ende des Stücks, das im Sommer schon in Salzburg und kürzlich in Berlin aufgeführt wurde, aber so große Worte wie „die Erlösung für alle“ auf … Ich bin eine Art Wirkungsmechaniker. Was ich tue, soll nicht erlösen, sondern etwas aus- lösen. Wenn die Leute mir nach der Aufführung in die Arme fallen und sagen, dass sie in so vielen Sätzen ihre Sinnsuche wiedergefunden haben, wenn Theater so allgemeingültig, so universell sein kann, dann haben wir sehr viel erreicht. Sie haben in den letzten 23 Jahren in über 120 Film- und Fernsehproduktionen mitge- spielt und sind schnelles Arbeiten gewohnt. Die Projekte eines Thorsten Lensing hin- gegen brauchen Zeit … Die Stücke werden über mehrere Jahr vorbe­ reitet und – wie bei der Oper – zwei Jahre im Voraus geplant, damit wir uns auch mit den kooperierenden Theatern verabreden können. Wir sind ja – auch wenn wir uns auf hohem Niveau bewegen – eine Off-Theatergruppe, die teilweise vomHauptstadtkulturfonds lebt und jetzt sogar bei den Salzburger Festspielen gelandet ist. Mit „Unendlicher Spaß“ wurden wir 2019 auch zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Außerdem können wir mit den Produktionen die schönsten Theater und Orte Europas bereisen. Erzählt das Stück eine Geschichte? Man verfolgt zwei Geschwister, die älter wer­ den. Am Anfang spielen sie als Kinder am Strand ihre Eltern nach, die nicht mehr leben. Charlotte will aus dem Spiel aussteigen, aber der Junge nicht, weil mit dem Ende des Spiels der Tod der Eltern endgültig ist. Dieser Anfang – wie das ganze Stück – ist aber sehr humor­ voll. Die Leute sind hin- und hergerissen zwi­ schen Ergriffenheit und unglaublicher Unter­ haltung. Die Vorstellung ist lang und fordert stimmlich und körperlich viel von uns. Trotz­ dem sind wir danach nicht komplett fertig, son­ dern fliegen immer noch mit den Zuschauern, weil die so gut mitgehen. Eine nicht unwesentliche Rolle imStück spie- len Tiere … Die Zeit verlangsamt sich, weil sich ein Tau­ cher, der gerade zusammengebrochen ist, allein durch sein Spiel in eine Schildkröte ver­ wandelt. Und wenn André Jung als Orang-Utan auftritt, sind die Zuschauer von dessen Lie­ benswürdigkeit völlig entwaffnet. Er ist deren Spiegel und macht philosophisch ein riesiges Fenster auf. Wir beschäftigen uns hier mit der Grundform des Theaters. Wir bedienen die Leu­ te nicht, sondern fordern die Fantasie. Das hat eine viel größere Nachhaltigkeit, wobei Tragik und Komödiantisches nahe beieinander liegen. Das klingt nach kurzweiligen dreieinhalb Stunden … Vor zwei Tagen saß Monika Grütters, unsere ehemalige Kulturstaatsministerin, imPublikum. Nach unserer Vorstellung in den Sophiensälen hat sie gesagt: Genau so etwas brauche man in dieser Zeit. Etwas, das keine Vorwürfe macht, das Publikum nicht ausgrenzt oder mit seinen eigenen Problemen in einer Form kon­ frontiert, dass es in dieser Zerrissenheit nach Hause geht. Das Stück nimmt alle in den Arm und blättert trotzdem viele Schwierigkeiten und Schwächen auf. Wie haben Sie sich Ihre Rolle erarbeitet? Ich habe eine eigene Art, Dinge erst mal asso­ ziativ und weit weg vom Text auszuprobieren. Mit der Zeit nähert man sich den Figuren, und alles wird immer enger, fester und klarer. Wenn du mit einem Regisseur arbeitest, der dich gleich zu Anfang kappt, kann dieser Prozess nicht mehr stattfinden. Die große Qualität unserer Arbeitsweise ist, dass wir niemals etwas falsch machen können. Es gibt kein Misstrauensvotum und keine Angstsituation. Interview: Sören Ingwersen 17.–20. NOVEMBER; Kampnagel 18 Foto: Bo Lahola THEATER Eine verhängnisvolle Affäre Vor 35 Jahren verstrickten sich Michael Douglas und Glenn Close in „Eine verhängnisvolle Affäre“. Der erotische Psychothriller wurde für sechs Oscars nominiert und in den USA ein enormer Kinoerfolg – woraufhin amerikanische Männer weniger aben­ teuerlustig wurden, sagt man. Denn im Film folgt auf den genussvollen Seitensprung eines erfolg­ reichen Anwalts und Familienvaters ein unvorstell­ barer Horrortrip. Was für ihn ein One-Night-Stand war, sieht seine Kurzzeit-Geliebte als Beginn einer Beziehung. Als sie das Missverständnis realisiert, holt die Verschmähte zum Rachefeldzug aus: Auf telefonische Belästigungen folgen Erpressungs­ versuche, die Androhung von Selbstmord sowie Psychoterror. Diese Eskalation funktioniert auch live auf der Bühne bestens, mit einem vierköpfigen Ensemble, zu dem auch Regisseur Christian Nickel gehört. (def) 10.–13., 15.–19., 23.–25. NOVEMBER; Kammerspiele Foto: Sinje Hasheider ALTES LAND NACH DEM ROMAN VON DÖRTE HANSEN AUF HOCH- & PLATTDEUTSCH 29.10.2022 – 18.1.2023

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