Hamburg Pur - November 2021

38 Foto: Freibeuterfilm/Rohfilm FILM GROSSE FREIHEIT Vom KZ ins Kittchen Homosexualität stand in Deutschland juristisch noch bis in die 1990er-Jahre unter Strafe. In „Große Freiheit“ nähert sich Regisseur Sebas- tian Meise behutsam aber eindringlich dieser Thematik. Franz Rogowski zeigt einmal mehr, wieso er zu den ganz großen Charakterdarstellern gehört gesetzte Zeitsprünge offenbart, verbindet die beiden in den letzten zwei Jahrzehnten eine ausführlichere Knasthistorie. Regelmäßig wur­ de nämlich Hans wegen seiner Homosexuali­ tät zu kurzen Freiheitsstrafen verurteilt. Meises Drama kreist um einen skandalösen, vomSystem abgesegneten Diskriminierungs­ akt, verfällt erfreulicherweise aber nie in den Entrüstungsmodus. Unaufgeregt, fast schon dokumentarisch nüchtern nähert sich der Re­ gisseur seiner Geschichte und dem Dilemma seines Protagonisten, den Franz Rogowski zu­ meist als stillen Kämpfer spielt. Kommt es in dieser behutsam aufgebauten Atmosphäre doch einmal zu einem emotionalen Ausbruch, geht dieser umso mehr unter die Haut. Erschüt­ ternd ist der Film schon deshalb, weil er präg­ nant herausarbeitet, welche Kontinuitäten von der Nazizeit in die ersten Dekaden der Bun­ desrepublik bestanden. Nach der Befreiung aus dem KZ landet Hans etwa auf geradem Weg imGefängnis. Nicht weniger eindringlich wird die unerwartete Intimität geschildert, die über die Jahre zwischen dem jungen Mann und dem anfangs abweisenden, von Georg Fried­ rich gewohnt kraftvoll verkörperten Viktor ent­ steht. (cd) AB 18. NOVEMBER AT, D 2021; 116 Min.; Regie: Sebastian Meise; D: Franz Rogow- ski, Georg Friedrich, Anton von Lucke ★★★★ ★ hamburg: pur Aktion! Zum Start des Films „Große Freiheit“ am 18.11., 20:30 Uhr in den Zeise Kinos verlosen wir 10 x 2 Karten. E-Mail mit Name und Betreff „pur:Grosse Freiheit“ an verlosung@szene-hamburg.com ; Einsendeschluss: 14.11. Als Ausgangspunkt für Sebastian Meises zwei­ ten Spielfilm diente der 1872 eingeführte Para­ graf 175 des deutschen Strafgesetzbuches, der sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechtes kriminalisierte. Eine von den Nationalsozialisten verschärfte Fas­ sung wurde von der Bundesrepublik Deutsch­ land bis 1969 übernommen. Erst dann kam es zu Lockerungen und Reformen, bis der Ge­ setzgeber 1994 (!) eine ersatzlose Streichung anordnete. Die Härte des besagten Paragrafen bekommt in „Große Freiheit“ der schwule Hans Hoffmann (Franz Rogowski) zu spüren, der 1968 ins Ge­ fängnis wandert, da er Sex mit Männern hatte. Hinter Gittern trifft er mit dem drogenabhän­ gigen Viktor (Georg Friedrich) einen alten Be­ kannten wieder, dem er schon kurz nach Kriegsende in der Haft das erste Mal begegnet ist. Wie sich nach und nach über geschickt 39 The French Dispatch Star-Regisseur Wes Anderson („Grand Budapest Hotel“) wollte schon länger einen Film drehen, der in Frankreich spielt. Einen, der das le- gendäre Stadtmagazin „The New Yorker“ thematisiert. Und einen, der aus Kurzgeschichten besteht. Nun erhält die Kinowelt alles drei auf einmal: Spiel, Spaß und unvergessliche Bilder. Sein neuestes Werk „The French Dispatch“ zeigt das Treiben des gleichnamigen, im fiktionalen französischen Ort Ennui-sur-Blasé produzierten wöchentlichen Magazins. Ganz im Stile des realen Vorbilds lässt Herausgeber Arthur Howitzer Jr. (Bill Murray) die Crème de la Crème der schreibenden Zunft Geschichten in Worte fassen: Herbsaint Serzarac (Owen Wilson), J.K.L. Berensen (Tilda Swinton), Lucinda Krementz (Frances McDormand), Roebuck Wright (Jeffrey Wright) – das sind die Autoren und Autorinnen, die realen Vorbildern nach- empfunden sind. Nach dem Ableben ihres geliebten Herausgebers, versammeln sie sich, um einen Nachruf zu verfassen. Die Autoren erinnern sich an vier Geschichten, die in einer Aneinanderreihung von Kurzfilmen vor- gestellt werden: eine Stadtrundfahrt per Fahrrad, die Geschichte eines begnadeten, im Gefängnis sitzenden Künstlers (Benicio del Toro), eine Reportage über politisch engagierte Jugendliche, die die Welt verändern möchten (unter anderem Timothée Chalamet) sowie eine Kriminalgeschichte um einen Kommissar (Mathieu Amalric) und einen Koch namens Nescaffier (Stephen Park). Eine Geschichte ist bizarrer und unterhaltsamer als die andere. Anderson gelingt mit einem Ensemble namhafter Schauspieler und dem Einsatz diverser stilistischer Mittel (Schwarz-Weiß, Farbe, Breit- bildformat, Normalformat, Comic-Optik etc.) das Kunststück, all das, was Printmagazine so liebenswert macht, filmisch auszudrücken. Darüber hinaus erweist er dem französischen Film (von Godard über Vigo bis Truffaut) seine Referenz. Das ist ansehnlich, komisch und in der Fülle ein wenig überwältigend. Selbst das Presseheft wurde gestaltet, als wäre es eine Ausgabe des „The French Dispatch“ – bis hin zu Illustrationen der Figuren. Man möchte die Zeitschrift am liebs- ten abonnieren. Doch leider gibt es sie nicht. No crying! – es bleibt der Gang ins Kino. (mag) AB 21. OKTOBER D, F, USA; 107 Min.; R: Wes Anderson; D: Bill Murray, Benicio del Toro, Frances McDormand ★★★★★ Ammonite Enttäuschungen haben ihre Spuren imGesicht von Mary Anning (gran- dios: Kate Winslet) hinterlassen. Der 1799 geborenen Paläontologin und Fossiliensammlerin bleibt als Frau aus der Unterschicht das patriarchalische Wissenschaftsestablishment verschlossen. Schon mit elf Jahren macht sie am Strand von Lyme Regis den spektaku- lären Fund einer versteinerten Meerechse. Der Ichthyosaurus wird im Britischen Museum ausgestellt, doch nicht unter ihrem Namen, sondern dem eines Mannes. Den kärglichen Lebensunterhalt für sich und die kränkliche Mutter verdient die Mittvierzigerin durch den Verkauf von Fossilien, Souve- nirs für Touristen. Ein freudloses Dasein voller Entbehrungen. Über- raschend taucht bei Mary ein reicher schottischer Geologe namens Roderick Murchsion auf, mit der Bitte, sich um seine schwermütige Gattin Charlotte (wundervoll: Saoirse Ronan) zu kümmern, sie ein- zuführen in die Kunst des Aufspürens und Präparierens von Fossi- lien, während er zu einer vierwöchigen Europareise aufbricht. Die elegante, verwöhnte Charlotte verspürt nur Widerwillen gegen- über dem rauen, stürmischen Meer, der felsigen Küstenlandschaft. Die wortkarge Paläontologin wiederum empfindet den Schützling als unliebsame Störung, zeigt offen ihre Abneigung. Die Kluft zwi- schen den beiden Frauen scheint unüberwindbar. Doch als Charlot- te schwer erkrankt, muss Mary sie daheim pflegen, ihre Feindselig- keit weicht Fürsorge. In dem armseligen engen Häuschen fern jedem Luxus verwandelt sich Charlotte. Ungelenk, fast kokett wirbt sie um Marys Zuneigung. Aus einem zaghaftem Gutenachtkuss entsteht unerwartet Leidenschaft. Als „eine innige, aber zugleich schroffe Liebesgeschichte” bezeich- nete Regisseur und Autor Francis Lee seinen ersten Film, „God’s Own Country“ (2017). „Ammonite“ ist ähnlich: große gewaltige Ge- fühle in Nahaufnahme, die Kamera weicht den beiden Protagonis- tinnen nicht von der Seite. Lees Regiekonzept verlangt absolute Au- thentizität. Jene Explosion verborgener Emotionen ist atemberau- bend und schauspielerisch meisterhaft. In der Umarmung verschwin- den die Unterschiede, ob Herkunft oder Alter – ein Akt von fast archai- scher Befreiung. Leider war der echten Mary Anning eine solche Beziehung nie vergönnt. (mag) AB 4. NOVEMBER GB 2020; 118 Min.; R: Francis Lee; D: Kate Winslet, Saoirse Ronan, Gemma Jones ★★★★★ FILM Foto: Searchlight Pictures / Twentieth Century Studios / The Walt Disney Company Foto: Tobis

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