Hamburg Pur - November 2021
Radio an! ROCKEN WIR GEMEINSAM HAMBURG! Auf 106,8 UKW www.rockantenne.hamburg THEATER tritt auf, und sofort sind alle von ihm angetan. Da gibt es ein Verlangen nach körperlicher Nähe, aber auch emotionalem und intellek- tuellem Austausch. Ist Krull ein Schauspieler im realen Leben? Er beobachtet, wie die Menschen sich in hö- heren Gesellschaftsschichten verhalten, und übernimmt zunächst eine Rolle. Danach ver- wandelt er sich aber in neue Person und wech- selt seine Identität. Darin besteht ein Unter- schied zu dem, was wir als Darsteller tun, nämlich bloße Behauptungen aufstellen. Ist es nicht ein urmenschliches Verlangen, einmal jemand anders sein zu wollen? Als Schauspieler ganz bestimmt. Aber all die Erfahrungen, die man gesammelt hat und die einen ausmachen, legt man dabei nicht ein- fach ab. Krull versucht zwar, das alte Ich, das „ungültige Dasein“, wie er es nennt, abzulegen, merkt aber, dass es schwierig ist, nur noch als Marquis durch die Welt zu ziehen. Wenn Felix nur das ist, was die anderen aus ihmmachen, ist er doch eigentlich eine tra- gische Figur, die niemals zu sich selbst fin- det … Total. Wenn Felix denkt, dass er etwas Besse- res ist, heißt das ja auch, dass er in seinem alten Leben kein Anschluss findet. Er hat kei- ne Freunde, keine emotionale Bindung an die Familie. Deshalb ist sein Wunsch auszubre- chen so groß. Aber nie das sein zu können, was man wirklich ist – das ist natürlich furchtbar tragisch. Ist dieses Gefühl nicht sehr zeitgemäß? Le- ben wir nicht in einem Zeitalter, wo Identi- täten infrage gestellt werden und die Selbst- darstellung eine große Rolle spielt? Auf jeden Fall. So gesehen ist das eine sehr Foto: Oliver Betke ALTONAER THEATER „Sein Inneres wird ausgewaschen und neu gefüllt “ Als Titelfigur in „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ nach dem Roman von Thomas Mann wird der Schweizer Schauspieler Flavio Kiener am Altonaer Theater zum Spiegel einer Gesellschaft, die betrogen werden möchte Im September ist die neue Verfilmung der „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ imKino angelaufen, und nun kommt der Stoff auf die Bühne des Altonaer Theaters. Dabei reicht die Tradition der Schelmenfiguren von Till Eulenspiegel bis zu dem realen Hochstap- ler Frank Abagnale, den Leonardo Di Caprio 2002 in der Spielberg-Komödie „Catch Me If You Can“ verkörperte. Worin besteht der Reiz dieser Figuren, die andere Menschen aus- tricksen und hinters Licht führen? Flavio Kiener: Führt Felix Krull wirklich andere Menschen hinters Licht? Auch der Begriff Hochstapler klingt für mich zu negativ. Felix will nur aus seiner Welt, seinen engen Fami- lienstrukturen ausbrechen. Er fühlt sich dort nicht zugehörig und zu etwas Besserem er- wählt. Er reitet dann auf einer Welle von Be- gebenheiten und Möglichkeiten, die von außen an ihn herangetragen werden. Andere Men- schen kommen auf ihn zu, weil sie etwas von ihm wollen und nicht umgekehrt. Felix nutzt die Gelegenheiten für sich aus, richtet dabei aber keinen großen Schaden an. Daher ist er für mich eine sympathische Figur. Demnach ist Felix ein Spiegel der Gesell- schaft, indem er zumErfüllungsgehilfen des- sen wird, was die anderen sich wünschen? Er ist eine Projektionsfläche für das, was an- dere in ihm sehen. Oder wie sie durch ihn sich selber sehen. Man kann ihn fast beneiden: Er 33
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