November 2020
Foto: Grandfilm Foto: Ascot Elite Entertainment KRITIKEN Doch das Böse gibt es nicht Der Goldene Bär der Berlinale ging in diesem Jahr nach Hamburg. An den Regisseur Mohammad Rasoulof, der seit 2012 in der Hansestadt lebt. Gerade aber wird er im Iran festgehalten. Seit er 2017 dort ein- reiste und wegen angeblicher „Propaganda gegen das System“ ver- urteilt wurde, darf er sein Heimatland nicht verlassen. Demonstrativ blieb sein Stuhl auf der Pressekonferenz der Berlinale leer, bewegt wurde sein Film geehrt. Dieses intelligente und packende Drama, das in vier Episoden von der Todesstrafe erzählt und von persönlicher Frei- der beiden Protagonisten, zum anderen an einigen starken und ein- prägsamen Szenen, die vor allemoptisch bildgewaltig (Kamera: Mátyás Erdély) und dramaturgisch behutsam umgesetzt sind. Der Film entzieht sich einer eindeutigen Genre-Zuordnung. Ein wenig Ehedrama, ein we- nig Thriller, ein Hauch von Horror, ein wenig Charakterstudie – das ist in dieser ungewöhnlichen Mischung geschickt konstruiert. Doch will der Film – wie sein Hauptcharakter auch – letztlich ein wenig zu viel. (mag) AB 26. NOVEMBER GB/Kanada 2020; 107 Min.; R: Sean Durkin; D: Jude Law, Carrie Coon, Oona Roche ★★★★ ★ heit in Zeiten der Unterdrückung. Da Rasoulof mit einemBerufsverbot belegt ist, haben die Darsteller den Film unter ihren Namen bei den Behörden eingereicht. Als schließlich gedreht wurde, war Rasoulof im- mer ganz in der Nähe und mit dem Team verbunden. Trotz dieser Um- stände entstand ein Film, der von der Kraft seiner Bilder lebt. Von den klaren und konzentrierten Einstellungen des Kameramanns Ashkan Ashkani, die so packend sind, wie die Geschichten selbst. Sie führen durch die Straßen Teherans, Gefängnisgänge entlang, durch Wälder und in die Wüste und zeigen, welche Konsequenzen es hat, sich dem System zu verweigern oder eben nicht. Folgt die Idee des Films Václav Havel, der sagte, dass jeder Macht habe, indem er Nein sagt, beruhen die Episoden auf persönlichen Erlebnissen Rasoulofs, die ihn nicht mehr losgelassen haben. Wie die zufällige Begegnung mit einemBeam- ten, der ihn verhört hatte. Rasoulof saß imAuto, als er ihn plötzlich aus einem Supermarkt kommen sah. Er fuhr ihm nach, beobachtete ihn und realisierte, dass nichts Dämonisches an ihm war. Die erste Epi sode erinnert daran, und die letzte dürfte wohl die persönlichste sein. Darin spielt Rasoulofs Tochter Baran eine junge Deutsch-Iranerin, die erfährt, wie eng das Schicksal ihres regimekritischen Onkels mit ihrem eigenen verwoben ist. „Die Fragen, die sie sich stellt, sind auch meine Fragen“, sagte die Hamburgerin, die ihren Vater auf der Berlinale ver- trat und dort auch den Goldenen Bären für den besten Film entgegen- nahm. „Der ist für dich“, rief sie. (sd) AB 5. NOVEMBER DE/CZE/Iran 2020; 150 Min.; R: Mohammad Rasoulof; D: Ehsan Mirhosseini, Shaghayegh Shourian, Kaveh Ahangar ★★★★ ★ The Nest Der britische Geschäftsmann Rory O’Hara (Jude Law) ist ehr- geizig, mittelpunktsüchtig und unersättlich. Trotz gut laufender Geschäfte und einem recht glücklichen Familienleben in einem amerikanischen Vorort, möchte er gemeinsammit seiner ame- rikanischen Frau Allison (Carrie Coon) und den zwei Kindern die USA verlassen und in seine Heimat England zurückkehren. Dort lockt für den ehemaligen Rohstoffmakler ein lukrativer Job. Er überredet seine Frau, die zunächst skeptisch ist. Sie wagen den Neuanfang. Er pachtet ein jahrhundertealtes Landgut in Surrey, mit genug Platz für Allisons Pferde. Doch mit Ausnahme von ihm selbst, vermag niemand sich so recht für das Haus und die neue Umgebung zu begeistern. Rory je- doch kennt kein Halten mehr. Nichts ist ihmmehr genug. Sei- ne Gier nach Geld, Ansehen und Status lässt den aus der Arbei- terklasse stammenden Makler alles aus dem Blick verlieren: Die Schulden, die immer größer werden, seine Frau, deren Lieb- lingspferd Richmond plötzlich stirbt und und die Kinder, die auf dem Landgut zurückgelassen werden. Das Wohl der Familie droht zu implodieren. Der Einsatz könnte höher sein, als er vermutet. Der zweite Spielfilm des Regisseurs Sean Durkin („Martha Marcy May Marlene“) feierte beim diesjährigen Sundance Festival seine Premiere und wurde von Kritikern gelobt. Eine Ehe, die bedroht wird von den Ab- gründen der Gier und der unbändigen Bestätigungssucht des Fami- lienoberhauptes, mit grandiosen Schauspielern wie Jude Law und Car- rie Coon, zeitlich in den 1980er Jahren angesiedelt – das klingt un- zweifelhaft vielversprechend. Der Film löst die damit verknüpfte Erwartungshaltung zu einem gro- ßen Teil ein. Das liegt zum einen an den überzeugenden Darstellungen 28
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