November 2020

Foto: Arno Declair THEATER über ein gesprochenes Wort Wahrheit entsteht, wird es immer schwieriger, neue Ideen zu ent- wickeln. Ich denke, da sind wir heute nicht viel weiter als damals. Horváth stellt seinemStück ein Motto voran: „Nichts gibt so sehr das Gefühl der Unend- lichkeit als wie die Dummheit.“ Was ist hier mit „Unendlichkeit“ gemeint? Sie könnte hier eine negative Bedeutung haben. Vielleicht kann ich nur über das Bewusstsein von der Endlichkeit meines Daseins einen Hand- lungsmotor entwickeln, der es mir ermöglicht, mich außerhalb der immer gleichen Facetten zu bewegen. Also eine Art Haltlosigkeit? Im Probengespräch mit vielen jungen Leuten, die Teil der Inszenierung sind, ist mir tatsäch- lich aufgefallen, wie sehr eine Orientierung fehlt und es nur darum geht, kollektive Identitäts- gruppen zu finden. So entsteht eine normative Erzählung, die vieles andere ausschließt. Da gibt es keine Offenheit, Durchlässigkeit oder Liquidität. Bin ich jetzt ein feministischer Leicht- links-Mann, möchte aber heterosexuell leben? Oder bin ich pansexuell und kunstinteressiert? Die Frage, was du bist, wer du bist und wie du das ausübst, ist eine dermaßen starke Plaka- tierung deiner Identität, dass du haltlos wirst, wenn du kein Kollektiv findest, das ebenfalls diese Prägung hat. Bei Horváths Stücken besteht ja immer die Gefahr, in die Karikatur abzurutschen. Wie ge- hen Sie damit um? Es wäre mir zu einfach, die Figuren als Fratzen oder Monster darzustellen. Deren Wünsche und Sehnsüchte sind ja echt. Nur die Zielverfolgung findet auf wahnsinnig schlechten Wegen statt. Besser, man hebt alles auf eine ästhetischere Ebene, auf der man nicht mehr danach fragt, wie die einzelnen Figuren aussehen könnten. Ich sehe hier ohnehin keine Menschen, son- dern eine Sprache, die sich mit sich selbst unterhält, als würden sich von Kalenderblät- tern geklaute oder irgendwo abgelesene Buch- staben von Mensch zu Mensch bewegen. Das sind hilflos-traurige Versuche, vorzukommen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, was Marianne zu Alfred sagt: „Lass mich aus dir einen Menschen machen.“ Und drei Sätze später möchte sie schon ein Kind von ihm. Das männliche Versprechen, das da vor ihr steht, wird zum Auffangbecken für alle Hoffnungen undWünsche. Heute sagt man dann leicht: „Warummuss die überhaupt hei- raten? Da sind wir doch schon viel weiter.“ Aber stimmt das? Kommen wir weiter, indem wir Dinge so aussehen lassen, wie sie nicht sind? Oder würden wir womöglich davon profitieren, wenn wir die Röcke und Hemden ein wenig lüf- ten, um zu gucken, was dort an Widerwärtigem und Asozialem lauert – gedanklich wie auch handlungsbezogen. Sind wir tatsächlich alle so tolerant und beweglich imKopf, wie wir vor- geben zu sein? Inwieweit ist Marianne ein Produkt ihrer Um- gebung? Wenn deine Umgebung dich als etwas Be- stimmtes braucht, welche Möglichkeit hast du dann, etwas anderes zu sein? Warum ist es für mich gut, dich als Opfer zu haben? Damit ich Täter oder Retter sein kann. Dadurch ist der Möglichkeitsraum von Entwicklung vorgege- ben. Das heißt nicht, weil du in der Nähe des Bahnhofs lebst und da alle Drogen nehmen, machst du das auch. Aber wenn ich einen Vater habe, der in mir immer nur das Sexualobjekt des nächsten Mannes sieht, dann brauche ich ja schon achtmal so viel Kraft, zumindest et- was anderes denken zu können. Findet eine Manipulation der Wahrnehmung auch in Ihrer Inszenierung statt? Beim Hochzeitsfest kommt irgendwann der Erich und sagt: „Kann ich hier mal schießen?“ Wenn man jedes „schießen“ durch „scheißen“ ersetzt, entsteht eine unglaubliche Erzählung. Womöglich amüsieren sich dann Hunderte Leute und denken gar nicht mehr darüber nach, dass jemand gerade gesagt hat: „Aber nur keine Neger, gell.“ Ich finde es wahnsinnig fas- zinierend, derlei manipulative Momente aus- zunutzen. Manchmal ist es nur ein Wort, was wir umdrehen. Das wird kaum einer merken, aber unterbewusst teilt sich das mit. Interview: Sören Ingwersen 7. (PREMIERE), 9. NOVEMBER UNDWEITERE Schauspielhaus; www.schauspielhaus.de Soziale im Asozialen zu erleben: Wenn ich auf der Theaterbühne einen Mord sehe, nehme ich an diesemMord teil und kann danach weniger asozial das Theater verlassen, als ich es vor- her war. Dabei weisen wir als Gesellschaft den Begriff des Asozialen heute weit von uns. Wir haben Regeln und Ideen, wie wir sind und wie alles um uns herum sein soll. Wir reden uns ein, die Ich-Instanz könnte alle Probleme lösen, und wenden hierzu Strategien wie Pseudologik, Lüge, Maskierung und Demas- kierung an. Leistet das Internet diesen Strategien Vor- schub? Ganz bestimmt. Man muss ja nur mal die so- zialen Medien anschauen. Da sieht man dann einen großen Eisbecher und ein Foto, auf dem wir ganz happy aussehen. Das Foto ist später die unhinterfragte Erinnerung daran, dass wir happy waren. Vielleicht müssen wir uns das auch glauben, damit wir weiterleben können innerhalb eines Systems, von dem wir nicht mehr wissen, wovon es sich ernährt und wo es seinen Motor hat. Eine schön frisierte Erinnerung oder Projek- tion, die wie imStück über die desolaten Zu- stände hinwegtäuscht? Bei Horvath wird der Mensch im Kontext der gesellschaftlichen Verrohung gezeigt. Aber welche Möglichkeiten sind ihm gegeben, das zu ändern? Trump ist hier ein gutes Beispiel, weil er so viel in Bildern spricht. Bei der ersten Wahl hat er so oft von „crooked Hillary“ ge- sprochen, bis man tatsächlich eine gekrümm- te Hillary Clinton vor sich gesehen hat. Wenn 26

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