November 2017
34 Die Welt sehen Nach einem Afghanistan-Einsatz werden die beiden Soldatinnen Aurore (Ariane Labed) und Marine (Soko) zusammen mit dem Rest ihrer Einheit in ein Fünf-Sterne-Hotel auf Zypern gekarrt. Dekompression, also Stressabbau, ist vor der Rückkehr in die Heimat angesagt – Sport, Erholung und die Verarbeitung traumatischer Erlebnisse stehen auf dem Programm. Was wie ein Traum klang, erscheint den Frauen völlig surreal: die hemmungslos feiernden Touristen, das überreichliche Essen, die verschwenderischen Wasserwelten der Pools, das dämliche Entertainment-Programm. Die unterschwellige Aggression der Soldaten ist allgegenwärtig, die Anspannung wächst auch dank der hilfreich gemeinten Psy- cho-Veranstaltungen mit einer Reality-Brille, bei der ein traumatischer Hinterhalt simuliert wird, minütlich. Kleinste Anlässe genügen, und der Druck bricht sich Bahn. Zu Recht wurden die Regisseu- rinnen und Autorinnen Delphine und Muriel Coulin in Cannes für das beste Drehbuch ausgezeichnet. Es ist schlicht brillant, wie die Schwestern den Hor- ror eines Krieges dem Zuschauer auf die Netzhaut brennen, ohne auch nur eine einzige Kampfszene zu zeigen – diese Bilder kennen wir zur Genüge aus den Nachrichten. Der psychologische Umweg über die traumatisierten Soldat(inn)en, die ihre äußeren wie inneren Wunden in der fast pervers anmu- tenden Luxuswelt des Hotels zu verbergen versu- chen, lässt die unmenschlichen Gräuel umso ein- dringlicher vor dem inneren Auge entstehen. (mas) AB 9. november im 3001 Kino; R: Delphine und Muriel Coulin; F 2016; D: Soko, Ariane Labed, Ginger Romàn ★★★★★ Lady Macbeth Nach ihrer Vermählung mit dem deutlich älteren Alexander (Paul Hilton), dem Sohn eines wohlhabenden Minenbesitzers, erwartet die junge Kathe- rine (Florence Pugh) ein eintöniges Leben mitten im englischen Nirgendwo. Das Anwesen darf sie auf Anweisung ihres Gatten nicht verlassen, und der übellaunige Schwiegervater (Christopher Fairbank) erinnert sie immer wie- der mit Nachdruck an ihre ehelichen Pflichten. Als die beiden Männer ge- schäftlich auf Reisen gehen, nimmt sich Katherine zum ersten Mal die Freiheit, ihre Umgebung zu erkunden. Dabei trifft sie auf den Bediensteten Sebastian (Cosmo Jarvis), mit dem sie schon bald eine stürmische Affäre beginnt. Schon der vielsagende, an eine Shakespeare-Tragödie angelehnte Titel von William Oldroyds Historien-Romanzen-Drama lässt erahnen, dass der von einer russischen Novelle inspirierte Kostümstreifen nach dem Ein- setzen der verbotenen Liaison eine dramatische Wendung nehmen wird. Tatsächlich entfesselt das langsam, aber beständig eskalierende Drehbuch einen tödlichen Strudel, dem gleich mehrere Figuren zum Opfer fallen und der die stilsicher inszenierte Emanzipationsgeschichte aus der Mitte des 19. Jahrhunderts in ein bedrückend-düsteres Licht rückt. (cd) AB 2. november R: William Oldroyd; GB 2016; D: Florence Pugh, Cosmo Jarvis, Paul Hilton, Christopher Fairbank ★★★★★ Aus dem Nichts Eine Nagelbombe detoniert mitten in der Hamburger City. Katjas Mann und ihr Kind werden getötet. Nuri (Numan Acar) war Kurde und schon mal im Knast, ein rassistisches Tatmotiv kommt den Ermittlern lange nicht in den Sinn. Katja (Diane Kruger) durchlebt einen Alptraum aus quälender Beweis- aufnahme und institutioneller Diskriminierung. Eine filmische Annäherung an die NSU-Morde war absehbar. Regisseur Fatih Akin versucht mit „Aus dem Nichts“ gar nicht erst, sich an der Komplexität des Falls die Zähne auszubei- ßen, sondern schickt seine Hauptdarstellerin auf eine fiktionale Tour de Force aus Gewalt, Verzweiflung und Wut. Vor allem dank Diane Krugers physischer und emotionaler Präsenz (in Cannes wurde sie als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet) funktioniert der Film als glaubwürdiges Trauerdrama. Und auch als kompromissloser Thriller. Eine realistische Aufarbeitung der NSU-Fälle ist „Aus dem Nichts“ zwar nicht; die unmenschlichen Mechanis- men, denen die Hinterbliebenen ausgesetzt sind, werden dennoch schmerz- haft deutlich. Fatih Akins Entscheidung, sich auf ihre Perspektive statt die Motive der Töter zu fokussieren, ist nachvollziehbar und menschlich. Hört man sie doch selten, die Stimmen der Opfer neonazistischer Gewalt. (kj) AB 23. november R: Fatih Akin; D/F 2017; D: Diane Kruger, Denis Moschit- to, Numan Acar ★★★★ ★ Foto: Koch Films Foto: 2016 Warner Bros. Ent Foto: Peripher Filmverleih
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