hamburg:pur Oktober 2025
Foto: Axel Martens THEATER DEUTSCHES SCHAUSPIELHAUS „ Aus dem Nicht-Wollen heraus beginnt der kreative Prozess“ Zur Saisoneröffnung übernimmt Schau spieler Paul Behren, der gerade ein zusätz liches Tanzstudium absolviert hat, die Hauptrolle in Frank Castorfs „Hamlet“- Inszenierung Stand zuletzt in Karin Beiers „Iokaste“ auf der Schauspielhaus- Bühne: Paul Behren aber nur bedingt zu, weil ich weniger vom Sprechtheater geprägt, sondern sehr physisch aufgestellt bin und eine Zirkusvergangenheit habe, bei der körperliches Training viel wich- tiger war als Sprache und Intellekt. Deshalb habe ich einen sehr pragmatischen Ansatz, mir das vorgegebene Material erst einmal anzu- eignen und zu durchdringen. Aber natürlich freut man sich, wenn man die Verantwortung für eine solche Rolle übernehmen darf. Was hast du beim Zirkus gemacht? Ich war Mitglied in einemKinder- und Jugend- zirkus in Tübingen, wo ich aufgewachsen bin, und habe mit Akrobatik sehr früh mein Körper- bewusstsein trainiert. Zehn Jahre nach deinemSchauspielstudium an der Folkwang Universität in Essen hast du an der Zürcher Hochschule der Künste einen Masterabschluss in Tanz und Choreo- grafie gemacht. Wie kam es zu dieser Ent- scheidung? Ich habe mich schon immer für Tanz interes- siert. In der Berliner Tanzwerkstatt habe ich früher schon eine Ausbildung angefangen, und auf dem ImPulsTanz-Festival in Wien Work- shops besucht. Jetzt habe ich zwei Jahre in Zürich gelebt und dieses Studium erst vor einemMonat beendet. Sind Tanz und Schauspiel für dich produktive Ergänzungen zumSprechtheater, oder möch- test du dich längerfristig umorientieren? Es ist auf jeden Fall auch eine Umorientierung, wobei ich mich schon immer gefragt habe, wie ich physisches Theater in meine Arbeit inte grieren kann, weil mir diese Ausdrucksform viel nähersteht als die des klassischen Schau- spiels. Deshalb möchte ich noch einmal neu ansetzen und versuchen, mich in Deutschland und der Schweiz als freischaffender Choreo- graf zu etablieren. Zur Verleihung des Boy-Gobert-Preises 2018 hast du deine erste eigene Choreografie ent- wickelt und aufgeführt. Wolltest du dir mit „No Words“ eine Dankesrede ersparen? Bei der Verleihung ist es üblich, dass der Preis- träger ein eigenes 40-minütiges Programm bei- steuert. Dass danach noch eine Dankesrede erwartet wurde, wusste ich nicht. lch hatte nichts vorbereitet, und es war mir auch sehr unangenehm, weil ich mich gerne bei vielen Menschen bedankt hätte. „No Words“ war also keine stille, versteckte Nachricht. Mein Schwei- gen basierte auf einemMissverständnis. Mit deinemBruder TimBehren hast du 2019 im Lichthof Theater auch ein Tanzstück über eure Geschwisterbeziehung aufgeführt … Mein Bruder arbeitet als Choreograf in Köln und hat dort das Circus DanceFestival ins Le- ben gerufen. Das Stück „Bruder“ war von ihm initiiert und eine super spannende Erfahrung, aber auch sehr herausfordernd für mich, weil wir uns das erste Mal auf der Bühne begegnet sind. Er hatte, glaube ich, total Lust, endlich mal sprechen und performen zu können, und Paul, für die Spielzeiteröffnung des Schau- spielhauses inszeniert Frank Castorf Shakes peares „Hamlet“, und du spielst die Haupt- rolle … Paul Behren: … wobei ich bis vier Tage nach Probenbeginn noch gar nicht wusste, dass ich Hamlet bin. Bei Frank ist es ja oft nicht sicher, ob es überhaupt eine Rollenbesetzung gibt. Diesmal ist es aber so? Mehr oder weniger, das wird sich zeigen. Bei Frank entsteht der Text ja erst während der Pro- ben – so wirkt es zumindest. Wir wissen also vorher gar nicht, was wir sprechen werden. Wie hat man sich das Proben ohne Textbuch vorzustellen? Frank spricht uns den Text vor, und wir spre- chen ihn nach. Später wird er vom Videomitt- schnitt transkribiert, und wir können ihn lernen. Einmal den Hamlet spielen – ist das nicht der Traum eines jeden Schauspielers? Dieser Eindruck wird einem an der Schauspiel- schule vielleicht vermittelt. Auf mich trifft das 10 THEATER ich wollte mich unbedingt körperlich ausleben. Du warst festes Ensemblemitglied des Deut- sches Schauspielhauses, hast das Ensemb- le dann aber verlassen, um eigene Projekte realisieren zu können. Hast du für die Arbeit in der freien Szene nicht zu viel aufgegeben? Ich habe schon imStudium und auch bei mei- nem ersten Engagement amMünchner Volks- theater, wo ich den Raskolnikow in Dostojews- kis „Schuld und Sühne“ gespielt habe, gemerkt, dass es zwei Herzen in meiner Brust gibt. Aber natürlich war es ein großer Karrieresprung, als Karin Beier sich die Inszenierung angeschaut und mir eine Stelle in Hamburg angeboten hat. Die Kündigung war kein Schritt weg vom Thea- ter, sondern hin zu einem guten Gleichgewicht. Der Raskolnikow inMünchenwar deine erste Hauptrolle. Duwarst 24 Jahre alt undwurdest in denMedien als „Entdeckung“ gefeiert. Der „Münchner Merkur“ schrieb, es sei „allein schon abendfüllend, dir beim Spielen zuzu- sehen“. Steigen einemsolcheWorte zu Kopf? Nach solchen Kritiken ist die Aufmerksamkeit sehr auf einen gerichtet, und es entsteht ein Druck, dieses Level zu halten. Trotzdemhaben mich die Kritiken total gefreut, wobei ich inzwi- schen gelernt habe, das alles nicht zu ernst zu nehmen, weil es auch schnell wieder in die an- dere Richtung gehen kann. Am besten ist es, sich einfach auf die Arbeit zu konzentrieren. Raskolnikow und Hamlet sind verletzlich, in sich gekehrt und große Zweifler, die ihre Ta- ten lange vorbereiten. Siehst du eine We- sensverwandtschaft zwischen diesen beiden Figuren? Ich habe diesen Gedanken bisher nur gestreift, aber ja: Diese innere Unruhe, das Nicht-Wis- sen, ob man jetzt selber verrückt ist, oder ob das Außen verrückt ist, und auch die Ambiva- lenz der Figuren zwischen Zartheit und Ag- gressivität – da sehe ich auf jeden Fall Verbin- dungen. Die Rollen sind sehr komplex, deshalb macht es großen Spaß, sie zu spielen. Frank Castorf hat als schonungsloser Pro- vokateur Theatergeschichte geschrieben. Ist der Regie-Meister mit 74 Jahren etwas al- tersmilder geworden? Zu der Frage kann ich nur sagen, dass ich auch bei der dritten Produktionmit ihm immer noch viel von seiner Arbeit lernen kann, weil er mir als Spieler Raum gibt, vieles selbst zu erarbei- ten. Man bekommt einen Weg skizziert und ist dann eigentlich auf sich selbst gestellt. Das ver- schafft einemdie Freiheit, seine eigenen Ideen ein Stück weit umzusetzen, was ich sehr mag. Wie entwickelt Castorf das szenische Spiel? Er schafft zu Beginn eine Atmosphäre, die al- les runterköchelt. Damit bringt er die Perfor- mer in einen Zustand, in dem sie erst mal gar nichts mehr wollen. Aus diesemNicht-Wollen heraus beginnt der kreative Prozess. Das fin- de ich sehr spannend. Das Ego der Darstellenden wird klein ge- macht, damit die Figuren wachsen können? So würde ich es nicht formulieren. Auf die Ener- gie, die du mitbringst, wird zunächst nicht ein- gegangen. Du möchtest etwas tun, aber musst vielleicht eine Stunde einfach nur dasitzen. Das hat etwas Unberechenbares, weil es keine klare, vorhersehbare Struktur gibt, und manch- mal ändern sich Dinge auch noch kurz vor der Premiere. Alles wirkt sehr spontan, was ich als Spieler aufregend finde, aber ich kann auch verstehen, dass manche schwer damit umge- hen können. Interview: Sören Ingwersen Deutsches Schauspielhaus, 3.10. (Premiere), 5., 25.10. und weitere Termine 2.11.2025 – 10.1.2026 WI SÜND DE NE'EN WOHNGEMEINSCHAFTEN VON RALF WESTHOFF Foto: Sinje Hasheider
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