hamburg:pur Oktober 2023

Foto: Hanno Koop THEATER Ich hatte einen Platz in der Meisterklasse Kla- vier an der Musikhochschule München, stand also an der Startrampe für eine ordentliche Karriere. Aber ich wollte lieber komponieren oder dirigieren. Ende der 1960er-Jahre war jedoch die Hochblüte der atonalen Komponis- tengruppe umStockhausen, Berio und Kagel, die die klassische ernste Musik komplett do- miniert hat. Hätte ich zu diesem Zeitpunkt be- gonnen, tonale Musik mit Herz zu schreiben, hätte ich auf dem Markt nicht die geringste Chance gehabt. Der Zeitgeist hat sich zum Glück gewandelt … … was sich wie eine Befreiung anfühlt. Man kann wieder seriöse und anerkannte Musik machen, ohne einer bestimmten Schule ver- pflichtet zu sein. Inzwischen ist meine Haupt- tätigkeit ja das Komponieren für großes Opern- orchester, und ich bin total glücklich, weil ich jetzt endlich da gelandet bin, wo ich ursprüng- lich einmal hinwollte. Für das Münchner Staats- theater am Gärtnerplatz habe ich den „Pumuckl“ gemacht, in Wien „Jeder stirbt für sich allein“. Dann wurde ich von der Komischen Oper in Berlin engagiert, um die Kinderoper „Pippi Langstrumpf“ zu schreiben. Jetzt sitze ich an dem Folgeauftrag: „Die kleine Hexe“ nach Otfried Preußler. Das St. Pauli Theater feiert Ihren Geburtstag mit einem Best-of Ihrer in den Jahren 2006 bis 2012 entstandenen Kiez-Trilogie be- stehend aus den Stücken „Lust“, „Nacht- Tankstelle“ und „Ricky“. Was reizt Sie an der Reeperbahn? Der Kiez ist ein Konglomerat aus merkwürdi- gen Gestalten, von teilweise aus der Gesell- schaft ausgeschlossenen, aber doch attraktiv wirkenden Figuren. Mit den drei Stücken woll- te ich hinter den sehr oberflächlichen Glamour gucken. Deshalb gibt es in meiner Table- Dance-Bar keine Table-Dancer, sondern Putz- frauen, die morgens um fünf die Reste dieses zum Teil nicht gerade hochästhetischen Lust- geschäfts beseitigen. Das ist der Teil der Kiez- Trilogie, der aus Sicht der Frauen erzählt wird. Das Pendant ist dann „Ricky“? „Ricky“ wirft in Anlehnung an das „Rocky“-Mu- sical einen männlichen Blick auf das Boxer­ milieu in der Kultkneipe „Ritze“. Ich zeige Männer, die sich an einem starken Vorbild abrackern und es nie erreichen – also die Würstchen, denen meine Liebe gehört. Ich betreibe ja nie Generalvernichtung, sondern versuche selbst an dem blödesten Kerl noch irgendwas zu finden, was reizvoll, interessant, schön oder berührend ist. In gewisser Weise von der Geschichte über- holt wurde die „Nacht-Tankstelle“. Das reale Vorbild, die Esso-Tankstelle an der Reeperbahn, wurde 2014 abgerissen … Aber wir haben die letzte der originalen Zapf- säulen. Die hat Esso uns für das Bühnenbild spendiert, worauf ich ehrlich gesagt ein biss- chen stolz bin. In diesem Stück zeige ich den Sammlungspunkt aller Ausgeworfenen, ob Pro- fessor, Punk oder die entlaufene Seniorin aus dem Altersheim. Das Best-of aus den drei Liederabenden wird ein Rundgang durch die Untiefen der Reeperbahn, der Lust machen soll, den Kiez so zu sehen, wie er ist: schräg, deprimierend und lustig. Interview: Sören Ingwersen Dichters und Dramatikers leiden mussten… Das mochte Brechts Tochter überhaupt nicht. Die hat nach einigen Monaten die Aufführun- gen verboten. Das klingt dann doch nicht nach Routine … Ich habe immer versucht, neue Geschichten zu erzählen und Figuren zu zeigen, die in sich widersprüchlich sind. Ich habe auch politische Abende gemacht, die mit meiner eigenen Bio- grafie zu tun haben. Bei „Brüder – Zur Sonne – Zur Freiheit“ standen für mich die Anliegen der Arbeiterbewegung und der Gewerkschaf- ten im Zentrum, die ich sehr unterstütze, und meine klare Abgrenzung gegen den Stalinis- mus und Extremismus. Eine Abrechnung mit Ihrer linken Vergangen- heit? Sie waren 1973 Mitbegründer des Kom- munistischen Bundes Westdeutschland … Da habe ich mir im Nachhinein viele Fragen gestellt. Wie konnte ich zumBeispiel mehrere Tage Robert Mugabe, den Diktator von Sim- babwe – ein Massenmörder, Schlächter und Blutsäufer – in meiner Wohnung beherbergen, wobei ich ihn auch noch bewundert habe? Wir haben auch Grußbotschaften an Pol Pot geschickt, eine ganze Delegation nach Kam- bodscha fliegen lassen und nachher behaup- tet, der Mann tue alles für sein Volk. Da fasse ich mich heute wirklich an den Kopf und bin heilfroh, dass unsere damaligen Ziele nicht ver- wirklicht wurden, sonst würden wir heute nicht so schön, lustig und frei leben. Schöpfen Sie viele Bühnenthemen aus Ihrer eigenen Biografie? Ja, weil sie schon sehr verrückt ist und mich an das gesamte Spektrum der Gesellschaft geführt hat. Ich stand in einer Traktorenfabrik am Fließband, war Staplerfahrer, Klavierbauer. Aufgewachsen bin ich in einer erzkatholischen Familie mit zwölf Geschwistern und einem Vater, der uns ständig durchgeprügelt hat. Da habe ich schon als kleines Kind Widerstands- formen gefunden. Dieser Instinkt „Ihr kriegt mich nicht klein!“ sitzt bis heute tief in mir drin, aber durchaus lustvoll und ohne Boshaftigkeit. Als Berufsrevoluzzer wäre ich wirklich fehl am Platz. War eine dieser Widerstandsformen die Musik? Musik war immer ein Trostpunkt für mich, eine Heimat, die ich selbst bestimmt habe. Das hat mir wahnsinnig geholfen, auch während mei- ner Zeit im Musikinternat der Regensburger Domspatzen. Ich bin ja sozusagen im „weichen“ Sinne sexuell missbraucht worden. Sich nackt ausziehen zu müssen, um sich von einem 22-jährigen Präfekten verprügeln zu lassen, war schon immer sehr semisexuell. Aber ich wusste auch von den Armen, die wirklich hart missbraucht worden sind. Das habe ich nur durchgestanden, weil ich diesen eisernen Willen hatte. Warum haben Sie nach der Schulzeit nicht weiter musiziert? 18 Foto: Sinje Hasheider THEATER Die Muskeltiere – Een för all, all för een Vier Freunde kämpfen um den Käse Hamburgs Deichstraße ist eine gute Adresse für Gourmets. Genau aus diesemGrund quartierte sich der Mäuserich Picandou dort ein, für einen verwöhnten Käseliebhaber wie ihn gäbe es kei- ne bessere Behausung als die Kellertreppe von Frau Fröhlichs Feinkostladen. Eines Tages hört der kleine Kerl von der drohen- den Schließung des Geschäfts. Das will er auf keinen Fall kampf- los aufgeben – wozu hat man denn Freunde? Zusammen mit dem Hamster Bertram von Backenbart aus Blankenese, der Kneipen- maus Pomme de Terre sowie der Ratte Gruyère, die lieber eine Maus sein möchte, stürzt er sich in ein aufregendes Abenteuer: Als „Die Muskeltiere – Een för all, all för een“ kämpfen die vier um das Käse-Paradies, mal auf Hochdeutsch, mal op Plattdüütsch. Inspiriert von der erfolgreichen Kinderbuch-Serie gleichen Na- mens inszeniert Julia Bardosch für Zuschauer ab sechs Jahren. (def) 1. OKTOBER (PREMIERE), 5., 8., 10.–15. OKTOBER UND WEITERE TERMINE; Ohnsorg Theater TUSSIPARK EINE KARAOKE-KOMÖDIE VON CHRISTIAN KÜHN AUF HOCHDEUTSCH | 13.10. – 2.11.2023 Fotos:SakarinSawasdinaka,mountainbeetle/shutterstock|Design&Composite:spektral3000.com

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