Hamburg Pur - Oktober 2021
FILM Töchter Die zarte Martha (Alexandra Maria Lara) kennt die burschikose Betty (Birgit Minichmayr) seit einer halben Ewigkeit. Als ihr schwerkranker Vater Kurt (Josef Bierbichler) in eine Schweizer Sterbeklinik chauf- fiert werden möchte, bittet Martha ihre alte Freundin, sie auf dieser schweren Reise zu begleiten: als moralische Stütze und nicht zuletzt als Fahrerin. Doch Betty taugt nur bedingt zum Fels in der Brandung, schippert die erfolglose Schriftstellerin doch auf Antidepressiva durchs Leben. So starten die gestressten Freundinnen mit dem ket- tenrauchenden, in Endlosschleife hustenden, doch stets charmanten Greis im Gepäck auf Kurts letzte große Fahrt. Deutsches Sterbehilfe-Drama, oh weh. Beklommene Gefühle stellen sich ein, nicht nur ob des ernsten Themas. Doch Nana Neuls Verfil- mung des Romans von Lucy Fricke umschifft die gefährlichen Ge- wässer des Betroffenheitskitsches mit trotziger Leichtigkeit, nicht zuletzt dank dreier souveräner Hauptdarsteller. Die Figuren sind rund, ihre Dialoge moussieren, die Gags sitzen, der Plot hoppelt fern von Schema F im Zickzack über dramaturgisches Kopfsteinpflaster. In Italien offenbart Kurt seine wahren Beweggründe für den Trip, und die sind überraschend lebensbejahend. Plötzlich als Duo unterwegs („Was soll das hier werden, Thelma und Louise?“), brauchen die Freundinnen ein neues Ziel. Das ist schnell gefunden, denn auch Betty hat ein Papa-Problem. Ihr Erzeuger seilte sich vor Ewigkeiten nach Griechenland ab. Die Sterbebegleiterinnen in spe mutieren zum Ermittlerduo und nehmen die Fährte des Ver- schollenen auf … bis Kurt wieder anruft. Wo dieser Film eigentlich hinwill, gerät zwischendurch etwas aus dem Fokus. Doch weil das wunderbar mit den unentschlossen durchs Leben eiernden Figuren konferiert, funktioniert es formidabel. „Töchter“ ist eine ebenso ver- gnügliche wie emotionale Achterbahnfahrt mit Dreifach-Looping. Geht doch, deutscher Film! (cc) AB 7. OKTOBER DE, I, GR 2021; 120 Min.; R: Nana Neul; D: Alexandra Maria Lara, Birgit Minichmayr, Josef Bierbichler ★★★★ ★ Auf alles, was uns glücklichmacht Dieser Film versprüht Lebensfreude in bester italienischer Filmtra- dition. Es geht um die Freundschaft, die Liebe, das Leben – und zwar in allen Facetten. Wie die Wirklichkeit bietet auch Gabriele Muccinos neuestes Werk („Das Streben nach Glück“) jede Menge Überraschun- gen, Wendungen, Rückschläge und Glücksmomente – wenngleich der Fokus, wie der Titel bereits suggeriert, auf Letzterem liegt. „Auf alles, was uns glücklich macht“ erzählt die Geschichte von vier Freunden, die in jungen Jahren unzertrennlich sind, sich im Laufe von 40 Jahren aber ein wenig aus den Augen verlieren. Giulio (Pierfran- cesco Favino), Gemma (Micaela Ramazzotti), Paolo (KimRossi Stuart) und Riccardo (Claudio Santamaria) wachsen in einer italienischen Kleinstadt in den 1980er-Jahren auf. Doch im Laufe der Jahre gehen sie unterschiedlichen beruflichen Wegen nach (der eine wird Jurist, der andere Lehrer, der dritte Journalist und die vierte verdient ihr Geld in der Gastronomie) und so trennen sich ihre Wege, um dann doch immer wieder zueinanderzufinden. Die anfängliche Romanze von Gem- ma und Paolo weicht einer Liaison zwischen ihr und Giulio, die die Freundschaft aller auf die Probe stellt. Das Auf und Ab des Lebens wird auf charmante, bejahende, gekonnt amKlischee vorbeischrammende Art erzählt. Der Film erinnert stark an Ettore Scolas „Wir hatten uns so geliebt“ (1974), einem Klassiker über das Wesen der Freundschaft. „Auf alles, was uns glücklich macht“ tritt in diese Fußstapfen und ist zugleich eine Hommage an die italie- nische Filmkunst bis hin zu Fellini. So erinnert eine Szene am römi- schen Trevibrunnen stark an eben jene Szene mit Anita Ekberg in „La Dolce Vita“ (1960). Mit rund 900.000 Zuschauern ist Muccinos Film in Italien zu einemPublikumsliebling avanciert, was neben den vielen temperamentvollen Szenen, auch an den nachdenklichen Momenten und den gekonnten Darstellungen der vier Hauptdarsteller liegt. Ins- besondere Pierfrancesco Favino („Il Traditore“) und Micaela Ramaz- zotti („La prima cosa bella“) spielen mit einer betörenden Leichtigkeit. Ein Film wie gemacht, um gefestigt den Herbst zu begrüßen. (mag) AB 14. OKTOBER I 2019; 129 Min.; R: Gabriele Muccino; D: Pierfrancesco Favino, Micaela Ramazzotti, Kim Rossi Stuart ★★★★ ★ Foto: Warner Bros. Foto: PROKINO 40 Foto: British Broadcasting Corporation/The British FilmInstitute/Supernova Film Ltd Foto: Chromosom Film GmbH/Tobias von dem Borne Supernova Mit dem Wohnwagen quer durch England – Tusker (Stanley Tucci) und Sam (Colin Firth), die seit vielen Jahren ein Paar sind, begeben sich in „Supernova“ auf eine Reise mit traurigem Hintergrund. Ers terer leidet unter früh einsetzender Demenz und weiß, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt, bevor sich sein Zustand massiv verschlechtert. Sam und er wollen das Leben noch einmal genießen und besuchen unterwegs Freunde und Verwandte. Ihr Roadtrip, der auch unbe queme Fragen hervorbrechen lässt, nimmt schließlich einen uner warteten Verlauf. Erst kürzlich lief in den deutschen Kinos mit „The Father“ ein bemer kenswerter Film über das schleichende Vergessen an. Florian Zellers Regiedebüt stach vor allem deshalb aus der Masse heraus, weil es das Publikum konsequent an die brüchige, unzuverlässige Wahr nehmung des von Anthony Hopkins famos gespielten Protagonisten bindet. Die gestalterische Komplexität der Bühnenadaption erreicht „Supernova“ sicherlich nicht. In seiner schnörkellosen, zurückge nommenen Art entwickelt Harry Macqueens zweites abendfüllendes Kinowerk jedoch eine ähnliche emotionale Wucht. Großen Anteil daran haben die imwahren Leben befreundeten Stan ley Tucci und Colin Firth, die das um die Kraft der Liebe, die Last der Verantwortung und das schmerzhafte Loslassen kreisende Drama mühelos tragen. In ihren von schmalzigen Anflügen gänzlich freien Darbietungen kommt eine große Nähe zum Vorschein. Mehr als alle Worte verraten kleine Gesten und Berührungen, wie tief die Bezie hung der Hauptfiguren reicht. Dass es trotz ihrer Verbundenheit Ge heimnisse gibt, arbeitet das vomRegisseur verfasste Drehbuch auf unaufgeregte Weise heraus. Überzeugend unterfüttert wird die me lancholische Grundstimmung durch die herbstlich-rauen Bilder der von Tusker und Sam passierten Landschaften, die nie einen bloß schmückenden Eindruck vermitteln. (cd) AB 14. OKTOBER GB 2020; 95 Min.; R: Harry Macqueen; D: Colin Firth, Stanley Tucci, Pippa Haywood ★★★★ ★ Borga Kojo wächst mit seinemBruder Kofi in Ghanas Hauptstadt Accra auf und sammelt, um mit seiner Familie über die Runden zu kommen, auf der riesigen Müllhalde bei Agbogbloshie wertvolle Metalle. Ein riskanter Job, denn in den schrottigen Resten westlichen Konsum verbrauchs stecken nicht selten giftige Substanzen. Kojo hat große Träume: Er möchte ein Borga werden – ein Geschäftsmann, der es im fernen Europa zu Wohlstand bringt, Maßanzug trägt, Sportwagen fährt und Hubschrauber fliegt. Als junger Erwachsener lässt Kojo (grandios: Eugene Boateng) seine Familie zurück und riskiert die Überfahrt. In Deutschland angekommen, merkt er jedoch schnell, dass der Traum bloß ein Mythos ist. Dennoch gilt es, den Schein zu wahren – und so gerät Kojo in prekäre Abhängigkeiten, aus denen es kein Entrinnen zu geben scheint. Auch seine Beziehung zu Lina (Christiane Paul) gerät in Gefahr. Mit seinem Debütfilm „Borga“ gelingt York-Fabian Raabe ein stilsi cheres Porträt über die Lebens- und Hoffnungswelten eingewan derter Ghanaer in Deutschland. Der Film räumte beim Max Ophüls Filmfest vier Preise ab (unter anderem bester Spielfilm, Publikums preis und gesellschaftlich relevantester Film). Regisseur Raabe hatte zuvor bereits einige Jahre in Ghana verbracht und Dokumen tationen über die dortigen Mülldeponien („Children of Sodom“) so wie über die afrikanische Flüchtlingsproblematik („Between Heaven and Earth“) gedreht. „Borga“ ist sein erster großer Spielfilm. Und was für einer! Der Film nutzt souverän die epischen Mittel des Kinos, um die universelle Geschichte des Aufbruchs eines jungen Mannes nach zuzeichnen. Im deutschsprachigen Bereich wurde bislang nicht so konsequent aus der Perspektive eines jungen schwarzen Prota gonisten erzählt. Zwar lässt Raabe die lebensgefährliche Überfahrt in seinem Film aus, doch ist dies verständlich, wenn man bedenkt, worum es in der Geschichte im Kern geht: dem Zerschellen des Traumes am harten Beton der Wirklichkeit sowie die Loyalitäts konflikte, die eine Reise ins Unbekannte mit sich bringen. Das gab es so in dieser Form zuvor noch nicht zu sehen und ist allein deshalb absolut sehenswert. (mag) AB 28. OKTOBER GHA, DE 2021; 107 Min.; R: York-Fabian Raabe. D: Eugene Boateng, Christiane Paul, Prince Kuhlmann ★★★★ ★ FILM 41
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