Hamburg Pur - Oktober 2021

THEATER Wie bindet ihr die Musiker in die Inszenie- rung ein? Das Stück ist filmisch konzipiert und arbeitet mit vielen Schnitten. Alles ist so kunstvoll cho- reografiert, dass die schnellen Szenenwechsel kaum auffallen, mit einem singenden, musi- zierenden und gleichzeitig möbelschiebenden Ensemble. Das ganze Stück ist einziger insze- nierter Song. Mit unseremRegisseur Gil Meh- mert haben wir da eine echte Koryphäe am Start. Spielst du imStück, wie im realen Leben, ver- schiedene Instrumente? Oder nur Gitarre? Lasst euch überraschen. Oft spielst und singst du – auch mit deiner Band – deine eigenen Songs. Wie groß ist die Herausforderung für dich, diese fremden Songs zu interpretieren? Rein stimmlich ist es viel Arbeit, an das heran- zukommen, was Hansard macht. Zum Teil ver- wendet er auch eine andere Saitenstimmung. Aber die eigentliche Herausforderung besteht darin, die Songs zu meinen eigenen zu machen, damit alles ganz automatisch läuft. Das ist eine langwierige Arbeit, die mich als Künstler aber bereichert und mir neue Inspiration gibt. Es ist ein Privileg und ein Geschenk, diese Songs per- formen zu dürfen. Und eine Verantwortung, die ich gewissenhaft tragen möchte. Zum Thema „Falling Slowly“ – dem Oscar- prämierten Song des Films – fällt mir das Vi- deo zu deinem eigenen Song „Bomba d’Amor“ ein, in dem du von einem Felsen ins Wasser springst. Das sieht ziemlich hoch aus … Das waren zwanzig Meter. Ein Felsen in Ponte Brolla im Tessin. Und du bist da wirklich selbst gesprungen? Zwei Mal. Der erste Take sah nicht geil aus. Ich wollte noch einen haben. Bei dem habe ich mir dann das Knie verdreht, was ich teilweise heute noch spüre. War der Sprung deine eigene Idee? Ich wollte schon seit fünfzehn Jahren dort hi- nunterspringen und habe nur auf den richtigen Anlass gewartet. Der Song „Bomba d’Amor“ handelt von der Wiedergeburt, von der Rück- kehr zu einem selbst. Vor einer Wiedergeburt muss man sterben. Da musste ich einmal kurz meine Höhenangst überwinden. Mit diesem Projekt wollte ich in jeder Hinsicht das Maxi- mum aus mir herausholen, mich und meine Energie formulieren. Mit diesemSong habe ich geschafft zu sagen: Das bin ich! Das ist meine Visitenkarte! Ich bin wahnsinnig glücklich, dass ich aus eigener Kraft und Kreativität so etwas gemacht habe. Sicher eine Grenzerfahrung … Das war der krasseste Drehtag für uns alle: Der Kameramann und sein Assistent haben für eine vier Sekunden lange Szene fünf Stun- den in dem kalten Bergfluss eine Kamera drei Meter unter Wasser mit Seilen und Gewichten befestigt. Das Schlimmste war dann der Mo- ment vor demSprung von der Klippe. Aber die- ses Bild war mir wichtig: sich herauswagen aus der Komfortzone. Woher kommt dieser Wille zum Ausbruch? Ein Aufbegehren gegen die Enge der Klos- terschule, die du in der Schweiz besucht hast? Überhaupt nicht. Die Stiftschule Einsiedeln ist das tollste Gymnasium in der Region, in dem übrigens auchMönche unterrichten. Die Schule hat ein breites kulturelles Angebot und einen eigenen Theatersaal – da hat für mich alles angefangen. Wir haben von Anfang an richtige Produktionen mit einem professionellen Re- gisseur realisiert. Dort konnte ich mich ganz frei entfalten. Dann liegt deine Energie in den Genen? Zum Teil ganz bestimmt. Meine Eltern sind schon immer durch die Welt gereist. Ich habe eine italienische Familie, in der es immer laut und lustig war. Alles war bei uns immer viel. Das ist mein Normalzustand. Die Energie kommt aber auch aus der Liebe zu Theater und Musik. Als Gamer habe ich die Challenge, den Highscore zu knacken. Wenn ich maximal per- forme, ist die Befriedigung nicht nur für das Publikum, sondern auch für mich am größten. Und ich bin so gerne befriedigt. (lacht) Der Erfolg, den du und deine Band Love Ro- ckets mit der Show „Tag der Helden“ habt, bei der ihr ausschließlich Cartoon-Introsongs spielt, klingt auch nach Highscore … Am 22. September 2016 haben wir den ersten „Tag der Helden“ als Band in der Albers Bar veranstaltet. Das Datumwerde ich nie verges- sen, denn der Auftritt war legendär! Die Bar war brechend voll. Wir haben Tonaufnahmen gemacht, die wir nicht verwenden konnten, weil die Gäste mit ihrem Gesang alles überpegelt haben. Irgendwann sind wir ins Schmidtchen umgezogen. Zu dem Zeitpunkt hatte ich schon mein erstes Musical (für sein Duo mit Cornelia Schirmer, Anm. d. Red.) geschrieben, und wir haben dann eine richtige Show daraus ge- macht. Der Rest ist Geschichte. Interview: Sören Ingwersen 31.10. (PREMIERE) BIS 19. JANUAR 2022 nur ein unscheinbarer Typ mit einer Gitarre. Dann legt er los und singt um sein Leben. Ich glaube auch nicht, dass es sich hier um eine klassische Boy-meets-Girl-Konstellation han- delt, denn die beiden treffen sich zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. Auch deshalb be- rührt uns diese Geschichte. Wie geht ihr auf der Bühne, die ja anders als der Film keine Illusion von Wirklichkeit er- zeugt, mit der Authentizität der Vorlage um und damit, dass die Hauptfiguren des Films so eng mit ihren Darstellern verknüpft sind? Glen Hansard spielt einen eher introvertier- ten Typ. Von dir hat man eher den gegentei- ligen Eindruck. Ich gehe bei dieser Rolle natürlich von mir aus und spiele meinen eigenen Typ. Bei Regisseur Gil Mehmert befinden wir uns diesbezüglich in besten Händen. Er richtet sich ganz danach, wer wir als Schauspieler sind. Aber auch ich habe, als ich vor zehn Jahren aus der Schweiz nach Hamburg gekommen bin, um die Schau- spielschule zu besuchen, mein Geld als Straßenmusiker verdient und viele Eindrücke gesammelt, die ich für das Stück nutzen kann. Trotzdem spielst du einen Charakter, der lange zögert, ob er mit seiner Musik an eine größere Öffentlichkeit treten soll, und der die Unterstützung eines anderen Menschen braucht … Dieser Charakterzug liegt meinem Naturell in der Tat etwas fern, aber diese Herausforde- rung gefällt mir. Eine einfache Rolle finde ich weniger interessant als eine schwierige. Das ist wie bei einem Video-Game: Ist das Rätsel schwieriger zu knacken, habe ich auch mehr Bock darauf. Ihr singt komplett auf Deutsch. Oft ist es ja so, dass übersetzte Gesangstexte ziemlich peinlich klingen … Anfangs dachte ich das auch. Aber als ich ge- sehen habe, wie feinfühlig und stimmig die Übersetzungen sind, habe ich erst recht Lust bekommen, die Rolle zu übernehmen. Außer- dem haben wir wahnsinnig ausgefeilte Musi- ker, ein Ensemble, das auch acht Strebern besteht. 34 Foto: Morris Mac Matzen Foto: SimonWachter Schmidts Tivoli Große Sause zum 30. Geburtstag Was ist los, wenn Andy Grote, Udo Lindenberg, Rolf Zuckowski, Mary Roos, Michael Otremba, Christina Block, Gayle Tufts und Jane Comer- ford zusammenkommen, um ordentlich zu feiern? Etwas Großes! Gestern war dieses Große der 30. Geburtstag der Reeperbahn-Traditions- bühne Schmidts Tivoli. Die Genannten zählten zu den 280 geladenen Gästen, die ein kunter- buntes Jubiläumsprogramm geboten bekamen – präsentiert von Gastgeber Corny Littmann, der das Schmidts Tivoli gemeinsam mit Prof. Norbert Aust und zwei Partnern am 1. Septem- ber 1991 eröffnet hatte. Unter anderem wurden Songs und Szenen aus „Heiße Ecke“ aufge- führt, demSt. Pauli-Musical, das nach andert- halb Jahren Corona-Pause wieder dauerhaft (dienstags bis sonntags) im Kiez-Theater zu erleben ist. (ebh) Hamburger Theaterfestival Hier lässt man die Masken sprechen Hochkarätig wie gewohnt, aber 2021 sogar hochverdichtet, zeigt sich das diesjährige Hamburger Theaterfestival: fünf Produktio- nen an acht Tagen mit 14 klangvollen Namen. Eigentlich sind es 19, doch die Namen – und insbesondere die Gesichter – der groß- artigen Spieler von „Familie Flöz“ sind nur deshalb weniger popu- lär, weil sie in ihren herzerwärmenden Stücken grundsätzlich Mas- ken tragen. In diesem Jahr zeigt die international erfolgreiche Crew um Michael Vogel, wie man „Feste“ feiert (Kampnagel, 15.+16.10.): Doch nicht aus einem glanzvoll geschmückten Saal, sondern von der Rückenansicht, aus der Perspektive derjenigen, die imHintergrund schuften, damit andere strahlen dürfen. Dass es dabei nicht bleibt, ahnt man, denn die Flöz-Familie ist bekannt dafür, ihren vielschichtigen Geschichten voll feinstemHumor eine unerwartete Wendung zu geben. Beredter kann ein Theaterabend kaum sein als mit dieser berührenden, wortlosen Körperkunst. Ähnlich stumm ist auch die Rolle der Protagonistin in Marlen Haus- hofers Roman „Die Wand“ angelegt, und auch dessen gleichna- mige Verfilmung lebt von Ereignisarmut. Das ändert sich drastisch in der Bühnenfassung des Deutschen Theaters Berlin: „Sophie Rois fährt gegen die Wand im Deutschen Theater“ (Schauspiel- haus, 12.+13.10.) – und das durchaus wörtlich und wortgewandt. Die österreichische Schauspielerin interpretiert die surreale Story um eine riesige gläserne Wand inmitten einer ohnehin einsamen Berglandschaft neu: Unter der Regie von Clemens Maria Schön- born ringt sie dem absurden Gegensatz von idyllischer Natur und Endzeitstimmung eigenwillige Nuancen ab; sie schießt und klettert, grübelt und verzweifelt, und von allem erzählt sie mit ihrer markant heiseren Stimme. Weitere Coups von Festival-Kurator Nikolaus Besch: „Die Blechtrommel“ nach Grass, Strindbergs „Totentanz“ sowie „Die Glorreichen Sieben“! (def) Hamburger Theaterfestival, 10.–18.10. THEATER 35

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