Oktober 2020

Foto: Tobis Foto: Koch Films KRITIKEN viele Ereignisse und Figuren unter einen Hut zu bringen hat, muss man – vor allem in der zweiten Hälfte – mit einigen Verknappungen vorlieb- nehmen. Sonderlich stark fallen die dramaturgischen Eingriffe und Auslassungen aber nicht ins Gewicht. Dafür sind Bilotts unermüdlicher Kampf und die Einzelheiten des aufgerollten Skandals schlichtweg zu interessant. (cd) AB 8. OKTOBER USA 2019; 128 Min.; R: Todd Haynes; D: Mark Ruffalo, Anne Hathaway, Tim Robbins ★★★★ ★ aus Verzweiflung und Entschlossenheit lässt sich die re- bellische, platinblonde Titelheldin treiben, sie tanzt über- all: am Hafen von Valparaíso, auf dem Schreibtisch der Scheidungsanwältin, allein oder in der Gruppe mit Gleich- gesinnten. Ema macht die Welt zu ihrer Bühne, erkämpft sich ohne Zögern gesellschaftliche Freiräume. In einer Szene greift sie zum Flammenwerfer: brennende Ampel- anlagen und Fassaden als verschlüsselte Botschaften, das Feuer sowie der pulsierende Rhythmus des Reggae- tons werden ihr kreatives Element, ihre Waffe. Tabus bricht die Protagonistin mit wahnwitziger Sinnlichkeit, weder Feuerwehrmann Anibal noch Anwältin Raquel können da widerstehen. Pablo Larraín kreiert mit „Ema” ein melodra- matisches, radikales Gegenstück zu der Charakterstudie „Jackie” (2017). Und doch: Die amerikanische First Lady und die androgyne chilenische Straßentänzerin haben un- erwartet viel gemeinsam: Jenen unerschütterlichen Durch- setzungswillen, das gekonnte Verbergen ihrer geheimsten Gedanken, das Sich-Stylen als Mysterium. Dem chileni- schen Regisseur („Neruda”, „No!”) gefällt offensichtlich, den Zuschauer in die Irre zu führen. Das bildgewaltige Leinwandepos ist wie seine Protagonistin: kompromiss- los, unberechenbar und von berückend destruktiver Schön- heit. Newcomer Mariana Di Girolamo besitzt unglaubliches Talent, ihr Tanz spiegelt das gesamte Spektrum an Emotionen auf diesem femi- nistischen Selbstfindungstrip wider, und doch ahnt niemand, dass hin- ter der scheinbaren Spontaneität ein detaillierter kunstvoller Plan steckt. (ag) AB 22. OKTOBER Chile 2019; 102 Min.; R: Pablo Larraín; D: Mariana Di Girolamo, Gael García Bernal, Santiago Cabreraibu ★★★★ VergifteteWahrheit Perfluoroctansäure, kurz PFOA, heißt der synthetische Stoff, dessen lebensbedrohliche Eigenschaften im Zuge des sogenannten Teflon- Skandals ans Tageslicht kamen. Aufgedeckt wurden die fragwürdigen Machenschaften des US-amerikanischen Chemiegiganten DuPont durch den Anwalt Rob Bilott, dem in Todd Haynes’ Leinwandrekons- truktion des Falles der dreifache Oscar-Kandidat Mark Ruffalo sein Gesicht leiht. Eine erfrischend bodenständige, unprätentiöse Wahl, die bestens zu der klassisch erzählten David-gegen-Goliath-Geschich- te passt. Bilott, der für eine große Wirtschaftskanzlei arbeitet, zögert zunächst, als im Jahr 1998 ein Farmer aus einer Kleinstadt in West Virginia in seinemBüro erscheint und behauptet, die von einer DuPont-Deponie ausgehende Verschmutzung sei für den Tod seiner Kühe verantwort- lich. Da der Jurist persönliche Bindungen in die ländliche Region hat, geht er den Anschuldigungen dennoch nach und stößt schließlich auf Hinweise, die schreckliche Befürchtungen nähren: Offenbar setzt der Konzern aus reiner Profitgier wissentlich die Gesundheit vieler Men- schen und Tiere aufs Spiel. „Vergiftete Wahrheit“ handelt von zutiefst beunruhigenden, erschüt- ternden Praktiken, wirft ein wenig schmeichelhaftes Licht auf einen der Big Player im Chemiegeschäft, driftet erfreulicherweise aber nie ins Kolportagehafte ab. Regisseur Todd Haynes („Carol“) verzichtet auf effekthascherische Inszenierungskniffe, kleidet seinen Film in ru- hige, unterkühlte Bilder, die der chronologischen Aufarbeitung und den engagiert aufspielenden Darstellern stets genug Luft zumAtmen lassen. Da das Drehbuch einen größeren Zeitraum umspannt, folglich Ema Verachtung schlägt Ema (Mariana Di Girolamo) entgegen. Die junge Tänzerin hat den mit ihrem Partner und Choreografen Gastón (Gael García Bernal) gemeinsam adoptierten kolumbianischen Waisenjun- gen dem Jugendamt zurückgegeben. Der achtjährige Polo legte ein Feuer im Haus, Emas Schwester ist nun durch Brandnarben entstellt. Die Ohnmacht und das Ausmaß eigener Unfähigkeit verwandelt die gescheiterten Eltern in hasserfüllte Gegner. Selbst auf der Bühne be- kriegen sie einander. Und so trennt sich Ema von Ehemann und Tanz- Company und will nur noch eins: ihren Sohn zurück. Wie in einemRausch 40

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