Oktober 2020

39 Cortex Schuster, bleib bei deinen Leisten, möchte man so manchem Schau- spieler zurufen, der den Wechsel auf den Regiestuhl wagt. Jahrelange Erfahrungen vor der Kamera allein reichen schließlich nicht aus, um die kreative Gesamtverantwortung für ein Filmprojekt erfolgreich zu schultern. Ein Gespür für die audiovisuellen Ausdrucksmöglichkeiten und den Aufbau von Geschichten sollte man ebenfalls besitzen. Mit seinem ersten selbst geschriebenen und inszenierten Spielfilm beweist Moritz Bleibtreu nun, dass er nicht nur ein versierter Darstel- ler ist. ImPsychothriller „Cortex“ verkörpert er den Wachmann Hagen, der unter Hypersomnie, quälender Tagesschläfrigkeit, leidet. Immer mehr nagt seine Verfassung an der Beziehung zu seiner Ehefrau Ka- roline (Nadja Uhl). Und immer häufiger sieht er in seinen verwirrenden Albträumen einen jungen Mann (Jannis Niewöhner), der von Kriminel- len bedroht wird und offenbar eine Affäre mit Hagens Gattin begonnen hat. Realität und Fantasie kann der Geplagte zu seinem Entsetzen nicht mehr richtig auseinanderhalten. Ein Lob verdient Bleibtreu schon für den Mut, mit einem düsteren Stoff zu debütieren. Wohl wissend, dass das deutsche Publikum Thriller- und Horrorwerke aus heimischer Produktion regelmäßig mit Missachtung straft. Vom ersten Akt an erweist sich „Cortex“ als souverän arrangier- ter Seelentrip, der alle Register zieht, um den beklemmenden Däm- merzustand Hagens greifbar zu machen. Gelegentlich mag man sich an David Lynchs „Lost Highway“ und Nicolas Winding Refns weniger bekannten „Fear X – im Angesicht der Angst“ erinnert fühlen. Mit­ seinen unbehaglich- blaustichigen Bildern, seinem intensiven Sounddesign, seiner markanten Musik- auswahl und seiner unzuverlässigen Er- zählperspektive ent- wickelt der Film aber eine bedrohliche, seltsam entrückte Stimmung, die auf eigenen Füßen steht. Unbedingt sehens- wert ist schon der bizarre Kurzauftritt von Charakterkopf Nicholas Ofczarek, der als erklärwütiger, in Traumfragen bewanderter Apotheker ordentlich aufdreht. (cd) AB 22. OKTOBER Deutschland 2020; 96 Min.; R: Moritz Bleibtreu; D: Moritz Bleibtreu, Jannis Niewöhner, Nadja Uhl ★★★★ ★ KRITIKEN Foto: Neue Visionen Filmverleih Foto: Gordon Timpen Warner Bros. Entertainment Foto: Gordon Timpen Warner Bros. Entertainmen als sie sich die Pflegeheimkosten für ihre de- mente Mutter nicht mehr leisten kann. Die Lö- sung könnte eine von der Straße abgekomme- ne, riesige Haschlieferung sein. Mithilfe zweier nicht allzu heller Kleindealer bringt Madame die Ware unter die Leute und gerät unter demCode- namen „Die Alte“ bald ins Visier ihres (immer noch) offiziellen Arbeitgebers. Dass ihr Freund Philippe (Hippolyte Girardot) die Ermittlungen leitet, macht die Sache umso pikanter … Isabelle Huppert (Oscar-nominiert für Paul Ver- hoevens „Elle“) genießt es sichtlich, die listige Drogenlady zu verkörpern und macht auch im Hidschab und mit haschgefülltemRiesenroll- koffer eine Bombenfigur. Wie die Grande Dame hier obercool zu lässigen Arab Beats durch den pulsierenden Melting Pot des Pariser Viertels Belleville marschiert, „le shit“ unter die Leute bringt und ihre Verfolger mit raffinierten Ein- fällen immer wieder elegant austrickst, macht einfach gute Laune. „Eine Frau mit berau- schenden Talenten“ ist eine gewitzte und herr- lich entspannte Verfilmung des Romans „Die Alte“ von Hannelore Cayre und zugleich ein anarchisches Loblied auf die Multikulti-Girl- power von Paris. Karin Jirsak AB 8. OKTOBER Frankreich 2020; 104 Min.; R: Jean-Paul Salomé; D: Isabelle Huppert, Hippolyte Girardot, Liliane Rovèr ★★★★★ Foto: Neue Visionen Filmverleih

RkJQdWJsaXNoZXIy MjI2ODAz