Oktober 2020
Foto: Arno Declair Foto: Bo Lahola KRITIKEN len verblüffend gut. Die Folgeereignisse des 11. Septembers 2001 sind dabei nur die Folie, auf der geschichtsübergreifen- de Mechanismen des skrupellosen Machtmissbrauchs aufleuchten, wobei auch mal ein singender Adolf Hitler (Burg- hart Klaußner) über die Bühne tanzt. Der Präsident heißt hier nicht George Bush, sondern Grotten. Wenn Wolfgang Pregler – eben noch beherrschter Schönredner – plötzlich seinen menschenverachten- den Zorn herausspukt, entsteht einer je- ner vielen Momente, in denen die Politik ihre wahre Fratze zeigt. Als Justizrat Dr. Schill liefert Daniel Hoevels eine ebenso hektische und rückratlose Parodie auf Hamburgs ehemaligen Innensenator. Der absolute Überflieger an diesem Abend ist Sebastian Blomberg. Sein machtbe- sessener Vizepräsident Selch ist eine herrliche Mischung aus eiskaltemSelbst- darsteller und Hanswurst. Schade nur, dass Goetz’ Text in der reflexiven Kreis- bewegung verharrt und sich so sehr an den Folterszenen im Gefangenenlager Abu Ghraib festbeißt, dass in der gefühl- ten Wiederholung uns selbst diese Grau- samkeit ermüdet. (si) 2., 15., 30. OKTOBER UNDWEITERE Schauspielhaus; www.schauspielhaus.de Die Kinder Ein verschlafenes Ferienhäuschen irgendwo am Meer ist Schauplatz für ein Wiedersehen alter Freunde. Von Idylle jedoch keine Spur: Der Strom ist rationiert, Schutzkleidung alltäglich und der Geigerzähler liegt griffbereit auf der Ab- lage. Zunächst versuchen die Gastgeber Hazel und Robin ihrer Besucherin Rose eine gewisse Normalität vorzugaukeln – mit Smalltalk, Tee undWein. Doch die weiß es besser: Seit der Ka- tastrophe im nahen Kraftwerk ist nichts mehr normal. Alle drei sind Wissenschaftler, die die- se Zeitbombemitverantwortet haben – und sich nun in sehr unterschiedlicher Weise (noch) ver- antwortlich fühlen. Doch das Trio, inzwischen imRuhestand und jeweils über 60, ist auch pri- vat verbandelt: Während sich das Ehepaar vier Kinder und ebenso viele Enkel leisten konnte, durfte Rose als Robins heimliche Geliebte nie schwanger werden, damit ihre Jahrzehnte dau- ernde Beziehung nicht auffliegt – es geht also um „Die Kinder“, geborene und ungeborene. In dieser Atmosphäre aus Liebe, Eifersucht und Angst fordert Rose eine Entscheidung von ihren ehemaligen Kollegen. Sewan Latchinian, künstlerischer Leiter der Kammerspiele, inszeniert das aufrüttelnde Stück von Lucy Kirkwood, als hätten die Drei alle Zeit der Welt – das Grauen kriecht sehr langsam, deshalb umso bedrohlicher, stetig näher. Die lebenstüchtige Pragmatikerin Ha- zel (großartig: Marion Kracht) verdrängt die Realität und versucht zwanghaft, fröhlichen Optimismus zu verbreiten; imGegensatz dazu stellt sich die schonungslos ehrliche Rose (be- eindruckend: Marion Martienzen) den verstö- renden Fakten; zwischen beiden Frauen im- mer noch gefangen, bewegt sich der undurch- schaubare Robin (schillernd changierend: Mathieu Carrière). Über kurzweilige 90 Minu- ten nimmt der in Echtzeit ablaufende Abend seinen unvermeidlichen Lauf, in einer bestens austarierten Balance aus beunruhigenden Vor- zeichen und absurdem Humor. Bis zum Schluss weiß das Publikum nicht, wie die Sa- che ausgehen wird. (def) 1.–3., 9.–11. OKTOBER UNDWEITERE Kammerspiele; hamburger-kammerspiele.de Reich des Todes Eine gelangweilte Gruppe von Zuschauern knabbert Chips und schlürft Getränke, wäh- rend der Videoscreen fotografisch dokumen- tierte Folterszenen zeigt. Dass in dieser Büh- nenszene auch noch zwei Clowns herumblö- deln, steigert die Betroffenheitsanordnung zur Farce. Mit der Uraufführung von Rainald Goetz’ „Reich des Todes“ blickt die regieführende Schauspielhaus-Intendantin Karin Beier tief in jenen vernebelten Abgrund, in dem die poli- tische US-Führungsriege die Krise nach den Anschlägen auf das World Trade Center nutz- te, um imNamen des Kampfes gegen den Ter- ror die Verbindlichkeiten der Demokratie sys- tematisch auszuhebeln. 14 Schauspieler teilen sich den leeren Bühnenraummit fünf Musikern, drei Tänzern und einer rotierenden Projektions- wand, um in einer vierstündigen Tour de Force Goetz’ rauschhaft aufgeblähte Textmassen in eine konsumierbare Form zu pressen. Das ge- lingt ihnen dank der exquisiten Ensembleleis- tung und Beiers überraschenden Regieeinfäl- 36
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