Oktober 2020
THEATER Ist es im Zeitalter der digitalen Medien noch denkbar, dass eine einzige Sendung ein so großes Echo in der Gesellschaft hervorruft? Inwieweit ist der Stoff heute noch aktuell? Der Stoff ist in gewisser Weise tatsächlich alt- modisch. Er steht aber am Beginn von etwas, das man als große Entwicklung lesen kann und ist im gewissen Sinn der Nukleus der scham- losen Inszenierung von Öffentlichkeit und der Manipulation von Wahrheit. Gibt es überhaupt noch Wahrheit, wenn Nachrichten zu Meinun- gen werden? Heute steht es jedem frei, im Internet auf nahezu unbegrenzte Informationsquellen zurückzugreifen. Ist es dadurch nicht viel schwieriger geworden, Menschen zu mani- pulieren? Meine Generation hat die Entstehung des Inter- nets miterlebt und die unglaubliche Freiheit, die es versprach, weil es anfangs als sehr de- mokratisches Medium galt. Ohne zynisch sein zu wollen, scheint es mir, dass diese Freiheit nicht mehr existiert. Den sogenannten seriö- sen Journalismus, an den ich als 50-Jähriger immer noch glaube, halten viele für inzwischen total ausgehebelt. Amerika ist in dieser Hin- sicht immer schon ein gutes Beispiel gewesen, weil sich die Phänomene dort viel mehr zuspit- zen. Fox News zumBeispiel ist ein Sender, der inzwischen ganz offensichtlich Regierungs- propaganda betreibt und unter dem Gaukel- spiel der Objektivität Meinung fabriziert und gestaltet. Ein aktueller Bezug für Ihre Inszenierung? Ich möchte den Stoff gar nicht aktualisieren und erhoffe mir eher – fast wie bei einemKlas- siker –, dass der Abstand zu den Realitäten, auf die man schaut, zu einem Erkenntnis- gewinn führt. Im humoristischen Bereich funk- tioniert das ja auch sehr gut. Nehmen Sie eine Zigarettenwerbung aus den 1960er Jahren, wo die Kinder den Eltern etwas zu Rauchen an- bieten und fast noch fragen, ob sie selbst auch mal ziehen dürfen. Das ist aus heutiger Sicht, wo Rauchen fast schon ein gesellschaftliches Tabu ist, eine bitterböse Satire, weil solche Sachen heute total abstrus erscheinen, sich im Kern aber nicht viel verändert hat. Howard Beal, ein etabliertes Mitglied aus der gesellschaftlichen Mitte, hat keine Hemmun- gen, seinen Zorn öffentlich zu artikulieren. Ist er ein Vorläufer des heutigenWutbürgers? Der Wutbürger tritt in der Masse auf und arti- kuliert seine Stimme auf der Straße. In unserem Stück bewegen wir uns aber in der geschlos- senen Welt des Fernsehstudios. Die Realität findet nur per Außenschaltung statt, wo man dann Menschen sieht, die inspiriert von Ho- ward Beal ihrem Zorn Luft machen. Hinter Beals Slogan „I’mmad as hell and I’m not gon- na take it anymore“ steht aber keine politische Haltung, keine Idee und kein Ziel. Er ist kein Revolutionär, Anarchist oder Wortführer – er schreit nur seine Wut heraus, wobei am Ende die Frage offenbleibt: Wohin führt diese auf- gerissene Gesellschaft? Da gibt es eine deut- liche Parallele zu heute. Ob das in dem Film damals so gemeint war, weiß ich nicht, da Ho- ward Beal trotz seiner psychotischen Störung dort eine große Sympathiefigur ist. Wird Beal auch bei Ihnen zum Sympathie- träger? Bei uns ist die Figur mit WolframKoch besetzt, mit dem ich in Frankfurt vor zwei Jahren „Ri- chard III.“ und vor zwei Monaten „Jedermann (stirbt)“ inszeniert habe. Es ist natürlich toll, wenn man es schafft, dass die Zuschauer eine solche Figur lieben, die sich dann in eine Rich- tung verändert, der man nicht mehr applau- dieren möchte. Dadurch bekommt die Haltung des Zuschauers eine ähnliche Ambivalenz, wie die Figur. Ein Charmeur und Entertainer, der zum Tyrannen wird – dafür ist Wolfram genau der Richtige. Interessanterweise lässt Beal sich mit sei- nem Zorn schließlich wieder für die kom- merziellen Zwecke des Senders einspannen. Warum tut er das? ImGrunde genommen symbolisiert Beal selbst das Medium. Außerhalb des Fernsehens gibt es ihn überhaupt nicht. Weiter gefasst könnte man sagen: Der Mensch ist das Bild, das er von sich produziert. Wenn es aber stimmt, dass wir das System sind, das wir meinen zu steuern, ist das ein ziemlich schreckliches Gesell- schaftsbild. Wo hat dann der Befreiungsakt noch Platz. Der französische Philosoph Guy Debord hat schon in den 1960er Jahren ge- schrieben, dass das Spektakel überall sei und sich selbst reproduziere. Auch die Kritik am Spektakel ist Teil des Spektakels. Da wird es wirklich unheimlich. Dann ist es mit der viel beschworenen Frei- heit des Individuums ja wirklich schlecht be- stellt … Wir haben – wie Beals Vorgesetzter Arthur Jen- sen sagt – ein total verselbstständigtes Sys- tem, in dem einige große Konzerne viel Einfluss nehmen. Trotzdem glaube ich, alles ist men- schengemacht. Man darf sich selber nicht aus der Verantwortung entlassen. Die Vereinfacher bringen einen ja dazu, dass man selber auch am liebsten vereinfachen würde. Aber wenn ich aufhöre, mit Rechten zu reden, schreie ich bald genauso Parolen und nehme die Knarre in die Hand, und das ist sicher keine Lösung. „Network“ ruft eher dazu auf, kompliziert, miss- trauisch und sehr eigenständig und widerstän- dig zu bleiben – egal wie verlockend es ist, Teil einer Menge zu werden und in einer Gemein- schaft aufgehen zu können. Interview: Sören Ingwersen 24. (PREMIERE), 31. OKTOBER UNDWEITERE Thalia Theater; www.thalia-theater.de Foto: Fabian Schellhorn Nutzt altmodischen Stoff als moderne Satire: Thalia-Regisseur Jan Bosse 34
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy MjI2ODAz