Oktober 2019
33 THEATER Warum hast du ausgerechnet einen Stoff, der als Kinderbuch erfolgreich wurde, als Vorlage für deine Inszenierung „Neverland“ ausgewählt? „Peter Pan“ war ja kein Kinderbuch, sondern ein Stück für Erwachsene, das nach der Urauffüh- rung 24 Spielzeiten auf dem Programm stand. Ich nutze es aber nur als Blaupause, um meine eigene Geschichte zu erzählen mit einer Kon- stellation von Figuren, die in den letzten hun- dert Jahren fast schon zu Archetypen geworden sind: Peter Pan, Tinkerbell, Hook und Wendy. Worin liegt das Erfolgsgeheimnis von „Peter Pan“? Es war damals ein totales Novum, so viele Welten in einem Stück unterzubringen: die Indianerwelt, die Piratenwelt, die Waisenkinderwelt. Aber vor allem hat James Matthew Barrie wahnsinnig gute Szenen geschrieben, die in sich so schlüssig und knackig sind, dass man einfach seinen Spaß hat. Er beschreibt ein sehr bürgerliches Milieu, in Antú Romero Nunes hat Schauspieler aus neun verschiedenen Nationen zusammengetrommelt, um sie ins „Neverland“ zu führen. Auf der Folie von James Matthew Barries „Peter Pan“ erzählt der Regisseur von einer entwurzelten Generation Foto: Krafft Angerer „DasKollektiv ist das Genie“ THALIA THEATER dem es zwar viele Regeln gibt, aber auch eine große Entwurzelung. Das betrifft auch den Au- tor selbst, der wie Michael Jackson irgendwann aufgehört hat zu wachsen, wie ein Kind weiter- gelebt und sich nur noch mit Kindern verstan- den hat. Barrie ist eine sehr rührende Figur, und ich setze ja immer bei der Person des Autors an, wenn ich einen Stoff auf die Bühne bringe. Inwiefern ist die Entwurzelung auch heute ein Thema? Wir sind Europäer, aber Europa stiftet keine Iden- tität mehr. Deshalb erzähle ich die Geschichte eines Mannes, der in der Mitte seines Lebens durch die Welt reist, aber eigentlich nirgends wirklich ankommt und nur darauf wartet, dass die Welt sich auflöst, so wie er selbst. Dieses apokalyptische Gefühl hat ja auch mit unserer eigenen Leere zu tun. Es gibt keine neuen In- halte mehr. Die endlose Wiederholung der Ge- schichte wird auf Dauer langweilig. Wie man innerlich ausbrennt, brennt auch die Welt um einen herum ab. Gibt es einen Weg, Neverland zu verlassen, um wieder zur eigenen Identität zu finden? Vielleicht muss man nur begreifen, dass man sich in einem Neverland befindet und dass es Identi- tät gar nicht gibt und sie auch nicht wichtig ist. Oft fragen mich die Leute: Wie lebst du seit sie- ben Jahren ohne Wohnung? In welcher Sprache denkst du? In welchem deiner drei Länder – in meiner Familie gibt es ja auch Fluchterfahrungen
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