hamburg:pur September 2023
THEATER Auch „Antigone“, der letzte Teil der „Anthropolis“- Serie, wurde weit im Voraus geprobt: Karin Beier mit Darsteller Michael Wittenborn Das ist so finster und voller ungelöster Konflikte, da fühle ich mich am Ende wirklich nicht moralisch gereinigt. Man ist eher schockiert über den Zustand der Welt. Glücklicherweise haben aber selbst die alten Griechen, die ja nicht für ihren Humor bekannt sind, ab und zu auch komödiantische Szenen geschrieben. Also ist das Theater keine Möglichkeit, die unterschwellige Gewalt, die in unserer zivili- sierten Gesellschaft gärt, zu bändigen oder zu kanalisieren? Ich glaube, dass das Theater an sich – unab- hängig vom gespielten Stück – eine katharti- sche Wirkung hat, weil ja stellvertretend für mich Menschen aus Fleisch und Blut Dinge aus- leben, ausschwitzen oder ausweinen, von denen auch Rudimente in mir selbst schlummern. Das Theater als Trainingscamp für Empathie? Natürlich. Weil man hier – viel stärker als zum Beispiel im Film, wo die Menschen nicht wirk- lich vor mir stehen – sich selbst imAnderen er- kennt. Das Potenzial unseres Zusammenlebens besteht darin, dass man in der Lage ist, ver- schiedene Positionen einzunehmen. Die Helden der griechischen Tragödie sind allerdings oft keine reinen Sympathieträger. Sie verhalten sich unangenehm, verkehrt, hysterisch, aggressiv oder gewalttätig. Dass man sich trotzdem mit ihnen identifiziert, finde ich ein tolles Modell. Das Aufgehen imAnderen ist auch Bestand- teil von rituellen Handlungen, auf die Sie mit Ihrem Uraufführungsmarathon in gewisser Weise ebenfalls Bezug nehmen. Bei den kul- tisch verwurzelten „Dionysien“ im alten Grie- chenland wurden an mehreren Tagen etliche Komödien und Tragödien hintereinander uraufgeführt … Das Theater ist entstanden, um die rituellen Opferhandlungen, die irgendwo in den Bergen oder Wäldern in Kithairon stattfanden und durchaus grausam waren, zu zähmen. Dafür hat man sie in die Stadt geholt. Das Theater entstand also aus einem religiösen Opferritus und hat dessen Kräfte gebündelt. Ähnlich wie der Kölner Karneval, der ja auch exzessiv ist und gewisse, vielleicht monströse Bedürfnisse stillt und ihnen einen Raum in der Stadt gibt. Ein ganz kleines bisschen ist es immer noch die Aufgabe des Theaters, diesen dionysischen Gefühlen in uns einen Ort zu geben. Text: Sören Ingwersen Prolog/Dionysus, 15. SEPTEMBER (URAUFFÜHRUNG), 17., 24. SEPTEMBER UND WEITERE TERMINE; Laios, 29. SEPTEMBER (URAUFFÜHRUNG) UND WEITERE TERMINE kennen zu müssen. Ich hoffe, der Erfolg hängt nicht nur an Folge eins. Im Zentrum des ersten Stücks steht Diony- sos, der Gott des Rausches, der Ekstase und des Wahnsinns, aber – wenn man so möchte – auch der Gründervater des Theaters. Das Dionysostheater in Athen gilt als Geburts- stätte des modernen Bühnendramas. Brau- chen wir heutzutage ein rauschhafteres Theater? Ein Theater, das unser vermeintlich rationales Handeln hinterfragt und unter- läuft? Genau das ist das große Thema unserer Serie. Es gibt Dinge, die wir qua Vernunft und Wis- senschaft – auf die wir heute so stolz sind – nicht steuern können. Unsere heutige Gesell- schaft hat verlernt, die irrationalen, religiösen und destruktiven Kräfte zu berücksichtigen. Dazu gehört auch die Potenz von Gewalt. Außerdem bin ich ein großer Fan des sinnli- chen Erzählens mittels der Kraft der Schau- spieler:innen. Natürlich wünsche ich mir, dass man den Rausch des Dionysos’ in meiner In- szenierung für einen Moment auch sinnlich erfahren kann. Dass man als Zuschauer nicht bloß von außen und damit kalt auf das Gesche- hen blickt, sondern hineingesogen wird in einen emotionalen Zustand, um nicht allzu leicht ein Urteil fällen zu können. Es ist ja immer schön, wenn ich mich in eine Richtung verführen lasse und darüber erschrecke, was dann passiert. Dabei möchte die griechische Tragödie eigent- lich immer die Mitte finden. Heute denken wir da leider sofort an Mittelmaß und finden das blöd. Mit „Antigone“ endet die „Anthropolis“- Serie … Hier geht es um die Frage, wie stark der Staat in die Privatsphäre eingreifen darf, und darum, dass libertäre Ansichten sich manchmal so stark radikalisieren, dass sie autoritäre Züge annehmen. Oft wird gesagt, dass Antigone, die trotz staatlichen Verbots ihren Bruder beerdi- gen will und sich dabei auf die Götter beruft, für Familie und Religion steht. Das wird aber im Text widerlegt, da ihre Argumentation sehr brüchig ist. Sie sagt selbst, dass sie ihren Ehe- mann und ihr Kind verrotten lassen würde. An- tigone ist eher das, was man gemeinhin als Störenfried bezeichnet, weil sie widersprüch- lich ist und keiner klaren Absicht folgt. Solche Menschen sind unangenehm, manchmal monströs, aber wichtig für die Gesellschaft, weil sie Dinge in Frage stellen und die Politik herausfordern, ohne Helden oder Märtyrer zu sein. Glauben Sie an die kathartischeWirkung des Theaters, wie Aristoteles sie in seiner Poetik beschreibt? Also dass das Theater uns hilft, mit unseren Ängsten, unserer Trauer und unseren Mitmenschen besser umzugehen? Ich finde nicht, dass diese Stücke einen ka- thartisch entlassen. Wenn ich an das Ende von „Die Bakchen“ oder an „Antigone“ denke … Foto: Thomas Aurin 18 Foto: Katrin Plötzky THEATER Die Aschemeines Vaters Plötzlich Multimillionärin Die Urne knallt auf die Bühne. Darin: „Die Asche meines Vaters“, Sashas Vaters. Erst vor Kurzem hat die 18-Jährige erfahren, dass sie die Tochter eines der reichsten Männer Hamburgs ist. Und der hat sie zur Allein- erbin gemacht. So die Ausgangssituation im jüngsten Stück des Jun- gen Schauspielhauses, das die neue Spielzeit eröffnen wird. Der künst- lerische Leiter Klaus Schumacher gab das Stück bei Soeren Voima (Sammelpseudonym eines Autorenkollektivs) in Auftrag und inszeniert es auch selbst. „Erben ist das Thema für Hamburg“, sagt Schumacher, „die Ressourcen sind ungerecht verteilt, folglich haben junge Men- schen sehr unterschiedliche Startbedingungen.“ In dieser Geschichte stellt sich Sasha, die bisher bei zwei Müttern aufwuchs, plötzlich neue Fragen: Was macht sie als Tochter mit so viel Geld? Wäre ihr ein anwe- sender Vater nicht doch lieber gewesen als ein reicher toter? Die Familie ihres Erzeugers lernt sie anlässlich der Beerdigung kennen, ihn selbst durch die Trauerreden. Offenbar war er ein Finanzjongleur, doch „selbst Geldhaie sollten wir so beschreiben und darstellen, dass man sie verstehen kann“, formuliert Schumacher seinen Anspruch an die Umsetzung. Es geht ihm darum, Unstimmigkeiten in unserer Gesell- schaft zu thematisieren: „Wir müssen Modell sein, Ausflüge ins Un- erprobte wagen!“ Thema und Titel zum Trotz, wird das Eröffnungsstück eine unterhaltsame Komödie für Menschen ab 13 Jahre: 50 Millionen zu erben – das ist einfach zu viel Asche. Wie immer bietet das Junge Schauspielhaus nicht nur Theater zum Schauen, sondern auch zum Selber-Machen. Im Format „Schauspielraum“ können Interessierte in der nächsten Saison unter professioneller Anleitung spielen. „Man kann sich hier entwickeln“, so Schumacher, „an diesem Ort für Kinder und Jugendliche, der spiegelt, wer sie sind und wer sie sein können.“ Text: Dagmar Ellen Fischer 8. SEPTEMBER (URAUFFÜHRUNG), 12.-14. SEPTEMBER und weitere Termine; Junges Schauspielhaus FRAU BACHMANNS KLEINE FREUDEN VON SAM BOBRICK OP PLATTDÜÜTSCH & HOCHDEUTSCH 27.8. – 24.9.2023 Foto: Sinje Hasheider
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