hmburg:pur September 2022

Foto: Rama Lorenzo Foto: Ceren Saner PARTY ITSCH ITSCHE Here to stay Melissa Kolukisagil ist im badischen Oberkirch aufgewachsen, studierte in Hamburg Politikwis- senschaft und organi- siert in ihremWohnort Berlin das İç İçe Festival. Ein Gespräch über neue anatolische Musik, (post-)migrantische Kultur und einen Abend Anfang September im Knust dert wurde und die Zugänge fehlten. Allmäh­ lich ändert sich das und İç İçe ist Teil von die­ ser Veränderung. Aber auch nur möglich, weil Jahre zuvor andere migrantische Personen schon hervorragende Arbeit geleistet haben. Es geht um politische, kulturelle und soziale Veränderungen, welche durch die Einwande­ rung, auch imKontext der Gastarbeiter:innen, hervorgehen. Wie könnte eine größere Anerkennung gelingen? Eine große Schwierigkeit ist weiterhin die Dis­ kriminierung von Menschen mit einem mi­ grantischen Hintergrund. Die gesellschaftliche Akzeptanz, welche leider noch nicht vorhan­ den ist, entsteht auch aus der Tatsache, dass die Räume nicht gegeben sind. Deswegen arbeitet İç İçe daran, diese zu schaffen, um Menschen eine Möglichkeit zu geben gesehen und gehört zu werden, aber wo sie auch ein­ fach ausgelassen feiern können. Warum sind diese Räume so wichtig? In eigenständigen Räumen kann Kunst ent­ stehen, die freier ist von den Erwartungen der Dominanzgesellschaft. Hier kann kulturelles Leben selbstbestimmter stattfinden und So­ lidarität zwischen unterschiedlichen Commu­ nitys wachsen. Nur wenige andere Städte in Deutschland stehen so sehr für postmigranti­ sche Kultur wie Berlin. Doch auch hier ist es für postmigrantisch kulturelle Räume schwer zu überleben oder gar zu entstehen – sei es aufgrund der rasanten Gentrifizierung, die In­ nenstädte homogenisiert oder einer weißen Kulturförderlandschaft. Was ist das Neue an „neuer anatolischer Musik“? Die anatolische Region ist seither ein Schmelz­ tiegel für diverse kulturelle Strömungen und Musiktraditionen. Spätestens seit den 60er- Jahren entfalten sich diese in unserer unmit­ telbaren Nachbarschaft neu und beeinflussen, vom Underground bis in die Popkultur, unse­ ren Alltag und das Nachtleben. Das „Neue“ daran ist, die Art und Weise wie Menschen die kulturellen Fragmente ihrer Herkunft neu inter­ pretieren und sich innerhalb der Gesellschaf­ ten, die sie beheimaten, Platz verschaffen. Was macht den Sound aus? Neue anatolische Musik – es ist absichtlich offengehalten und kann alles sein. Es geht da­ rum, Raum zu lassen für die Interpretation der Künstler:innen, die vor allem in zweiter und dritter Generation in der Diaspora leben. Ana­ tolische Musik ist divers aufgestellt. Es variiert von Musik durch klassisch anatolische Instru­ mente wie der Bağlama, aber findet sich auch im Rap von beispielsweise Apsilon wieder, da Apsilon in Texten Fragen von Identität und Mehrfachzugehörigkeiten verhandelt. Da die Melissa, was heißt İç İçe wörtlich und welche Bedeutung hat der Begriff? Melissa Kolukisagil: İç İçe, heißt so viel wie „ineinander ver­ schränkt“ oder „miteinander verwoben“ sein. Für uns steht İç İçe für das Verschränken von hybriden Identitäten, das Leben in der post­ migrantischen Gesellschaft. İç İçe steht somit auch für die Akzeptanz von Mehrfachzugehö­ rigkeiten. Es geht um einen Raum in dem plötz­ lich vieles möglich ist. Wie ist postmigrantische Gesellschaft defi- niert? Der Begriff meint, dass unsere Gesellschaft durch die Erfahrung der Migration geprägt ist. So auch die Kulturlandschaft und das, obwohl migrantische Kunst oft nicht ihre Anerkennung erfährt, die sie verdient. Da sie oft nicht geför­ 10 PARTY anatolische Region schon immer ein Schmelz- tiegel war, ist eine konkrete Antwort schwer, anatolische Musik kann und darf alles sein. Wir möchten vor allemmit der oft eindimensiona- len Erwartung brechen, wie anatolische Musik klingen soll. Wie kamst du auf die Idee, daraus ein Festi- val zu machen? Meine musikalische Sozialisation fand als Kind auf türkischen Hochzeiten statt. Aufgewach- sen bin ich mit türkischen Pop-Hits. Natürlich muss hier Takan erwähnt werden, aber auch Klassiker wie Orhan Gencebay, den ich heute aufgrund seiner politischen Positionierung kri- tisch betrachte, waren Teil meines damaligen Repertoires. Das Lied „Kaderimin Oyunu“ von Orhan Gencebay hat bis heute eine besondere Bedeutung, denn es begleitete die Autoreise meiner Mutter, als diese als Braut aus der Tür- kei nach Deutschland kam. Meine Mutter hat viel gesungen, was mich auch geprägt hat. In der Pubertät habe ich irgendwann fast gar kei- ne anatolische Musik mehr gehört und befand mich irgendwo zwischen Auflehnung gegen meine Familie und Protest gegen die weiße Dominanzgesellschaft. Als ich dann auf einem Festival war und Altın Gün gehört habe, war das eine ganz besondere Erfahrung zu sehen, wie die Lieder, die ich aus meiner Kindheit kannte, von allen gefeiert wurden. Als ich sel- ber begann in der Veranstaltungsbranche zu arbeiten, erlebte ich diese als sehr weiß, männ- lich und hierarchisch. Das war kein Umfeld, in dem ich bleiben wollte und deswegen mit İç İçe den Raum schaffen, der mir, beziehungs- weise uns, fehlt. Wer steckt noch dahinter? İç İçe ist ein Team von insgesamt sieben Leu- ten. Wir arbeiten gemeinsam an dem Projekt mit viel Herz. Wir sind zudem ein sehr diverses Team, was nicht nur für uns persönlich, aber auch für İç İçe sehr gewinnbringend ist, da wir viele Perspektiven einbinden können. Wie ist der Abend aufgebaut? Er wird eine gewisse Dramaturgie haben. Mir ist es wichtig, nicht nur ein Konzert nach dem anderen zu zeigen, es soll um die Inhalte, das Gefühl gehen. Wir haben ein Programm gestal- tet, welches ein Konzept der Plattform auf- greift und den Raum der Vernetzung erzeugt. Wir werden wunderbare Konzerte von zumBei- spiel Nalan sehen. Gegen Abend werden dann auch DJs wie Hülya aus Hamburg auflegen. Adir Jan verschränkt Texte über homosexuelle Liebe mit mitreißenden psychedelischen Sounds von „klassisch“ anatolischen Instru- menten. Oder DJ Ipek, die immer einen tollen Mix hinbekommt – zwischen anatolischer Hochzeit und Berliner Technoclub. Wird es noch weitere İç İçe Festivals geben? Wir merken immer mehr, wie der Wunsch und die Nachfrage an unserem Programm steigt. Pläne haben wir viele. Wir sind mit Städten wie München und Heidelberg imGespräch. So viel kann gesagt werden: İç İçe is here to stay. Interview: Ole Masch 2. SEPTEMBER 18:00 UHR; Knust; itsch-itsche.com REEPER BAHN FESTIVAL → 21.–24. SEPT.2022 MINE, ROY BIANCO & DIE ABBRUNZATI BOYS, ANNA CALVI, BONAPARTE & SOPHIE HUNGER, TOM WALKER, KOKOROKO, BETTEROV & FRIENDS, PONGO, HUNDREDS + X, PAULA HARTMANN, ALBI X, MIA MORGAN, MOGLII, KEROSIN95, JOY CROOKES, DESTROYER, WILHELMINE, KIDI, ALYONA ALYONA, DŸSE, FRENCH 79, BILLY RAFFOUL, WARHAUS, HOMESHAKE, MONCRIEFF, SCARLET PLEASURE, LOSTBOI LINO, CASSIA, CLOCKCLOCK, LOLA MARSH, BLU DETIGER, NAND, ANAÏS, SKINNY LISTER, SOPHIA KENNEDY, MY UGLY CLEMENTINE, WILL LINLEY, WHISPERING SONS, BILLY NOMATES, K.ZIA, CHARLOTTE BRANDI, RAUCHEN, ROLLER DERBY, PHILINE SONNY, AL-QASAR, JOE & THE SHITBOYS, STELLA SOMMER → UND VIELE WEITERE INTERNATIONALE KÜNSTLER*INNEN gefördert von unterstützt von Medienpartner*innen Sponsor*innen

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