Hamburg Pur - September 2021

Foto: Florian Raz THEATER DEUTSCHES SCHAUSPIELHAUS „Wir verlernen, andere Perspektiven einzunehmen“ „Kindeswohl“: Mit der deutschsprachigen Erstauf- führung von Ian McEwans „The Children Act“ lotet Karin Beier die Grenzen unserer Freiheitsrechte aus diesen Stoff zu finden, der einerseits komplexe psychologische Figuren zeigt und andererseits sehr spannende diskursive Passagen enthält. Wir haben dabei bestimmte Aspekte heraus- gearbeitet, unter anderem die Frage nach dem Sinn des Leidens, nach unseren Wertvorstel- lungen und unserem Verhältnis zum Tod. Im Roman „The Children Act“ ordnet Fami- lienrichterin Fiona Maye eine lebensrettende Bluttransfusion für den 17-jährigen, an Leu- kämie erkrankten Adam an. Er und seine El- tern haben sich dieser Maßnahme widersetzt, weil sie als Zeugen Jehovas Gottes Wille be- dingungslos gehorchen. Wie kommt es, dass Adam schließlich doch die Entscheidung der Richterin akzeptiert? Zunächst muss sich Adam ja dem Urteil von Fiona Maye und damit dem Gesetz beugen. Emotional und psychisch kommt er da nicht hinterher, er findet die Vorstellung imwahrsten Sinne des Wortes zumKotzen, dass sich frem- des Blut mit seinem eigenen vermischt. Es fühlt sich für ihn an, als habe er den Speichel eines anderen Menschen getrunken. Doch durch die Begegnung mit Fiona gelingt es ihm, eine Fremdperspektive auf seine eigene Religion einzunehmen, und er kann die Begrenztheit die- ses Weltbildes zumindest rational erkennen. Nur leider ist Fiona nicht bereit, die emotionale Lücke zu schließen, die sein Ausschluss aus seiner bisherigen Lebensgemeinschaft bei ihm hinterlässt. Für welche Figur im Roman haben Sie die größte Sympathie? Und warum? Ich möchte gar nicht einseitig für eine Figur Partei ergreifen. Ich habe versucht, allen Cha- rakteren eine gleichwertige, eine plausible Stimme zu geben. Dramaturgisch interessant wird der Konflikt ja erst, wenn ich jede Position nachvollziehen kann, also auch diejenige, die in meinem Leben erst einmal die amweitesten entfernte ist. Das scheinen wir in unserer mo- dernen Welt ja zu verlernen, also was es heißt, auch einmal eine andere Perspektive einzu- nehmen, die nicht unserer eigenen Vorstel- lungswelt entspricht. Ich muss ja nicht zwangs- läufig am Ende meine Meinung ändern, aber ich muss mein Gegenüber verstehen wollen! Ein Schlüsselmoment im Roman ist das ge- meinsame Musizieren von Fiona und Adam, bei dem sie sich menschlich näherkommen. Welche Rolle spielt die Musik in Ihrer Insze- nierung? Die Musik ist eine ganz wichtige Ebene in mei- ner Inszenierung. Auf einer Probe haben wir die Arbeit einmal ein „rhetorisches Kammer- musikspiel“ genannt, und ich glaube, das trifft es ganz gut. Die Musik ist wie eine zweite Er- zählebene über die Emotionen und Zustände der Figuren, die sie nicht verbal miteinander zu kommunizieren imstande sind. Interview: Sören Ingwersen 18. (PREMIERE), 21., 22., 28., 30.9. Frau Beier, warum haben Sie sich entschie- den, Ian McEwans Roman „The Children Act“ auf die Bühne zu bringen? Karin Beier: Ich finde diesen Roman brandak- tuell. Es werden darin verschiedene Themen verhandelt, die mich seit Langem beschäftigen und die gerade jetzt in der Pandemie wieder mitten ins Zentrum unserer gesellschaftlichen und politischen Debatten gerückt sind. Zum Beispiel der Konflikt unserer Grundwerte, mit demwir akut zu kämpfen haben: Ist der unbe- dingte Schutz des Lebens höher anzusetzen als die Würde des Menschen? Wie viel Eingriff von Seiten des Staates in unsere demokratisch garantierten Freiheitsrechte, wozu beispiels- weise auch die Religionsfreiheit oder das Recht auf Selbsttötung gehören, sind wir als Gesell- schaft bereit zu akzeptieren? Und wer ist wie und für welche Konsequenzen verantwortlich zu machen? Das sind nicht nur juristische, son- dern vor allem auch ethische Fragestellungen. Und nicht zufällig ist „Kindeswohl“ der Begriff der Stunde im Zusammenhang mit den staat- lichen Schutzmaßnahmen gegen die Corona- Krise, weil es vor allem immer wieder die Kinder sind, die einen hohen Preis für unsere politi- schen und zivilgesellschaftlichen Entscheidun- gen bezahlen. Der Autor Ian McEwan hat auf Grundlage sei- nes Romans ein Drehbuch für die Verfilmung des Stoffs mit Hauptdarstellerin Emma Thompson geschrieben. Nutzen Sie auch diese Vorlage oder wählen Sie und Drama- turgin Sybille Meier einen ganz eigenen Zugang? Und wie sieht dieser aus? Wir haben natürlich auch die Verfilmung des Romans wahrgenommen, aber auf Grundlage des Romans eine eigene Theateradaption er- arbeitet. Dabei war es wichtig, eine Form für 10 THEATER Hair Systemkritik mit viel Musik Haare einfach wachsen zu lassen – das war in den 1960er-Jahren der simpelste und zugleich sichtbarste Protest männlicher Rebellen gegen das US-amerikani- sche Establishment. Ihre farbenfrohe Kleidung tat ein Übriges, sie als Aussteiger zu identifizieren. Hinter dem verrückten Erscheinungsbild steckte ein neues Lebens- gefühl: Sie verweigerten sich dem Modell Familie und erst recht dem Staat, wenn es um den Dienst mit der Waffe ging. Stattdessen propagierten sie Naturverbun- denheit, Pazifismus, freie Liebe und die „United States of Love“. Das Musical „Hair“ fängt diese Gegenkultur der Hippie-Generation perfekt ein. Gestartet als Off-Broad- way-Stück, schaffte es den Sprung zum Broadway und von dort auf internationale Bühnen als erfolgreichstes Musical seiner Zeit. Zwölf Jahre nach der Uraufführung 1967 in New York City entstand der gleichnamige Film. Und der ist längst Kult – dank der großartigen Regie von Miloš Forman, Songs mit Ohrwurm-Qualitäten und Treat Williams als charismatischem Hippie-Anführer. Dem gelingt es, einen Frischling vom Land auf demWeg zum Militäreinsatz in Vietnam während seines Zwischen- stopps in der Großstadt mit unkonventionellen Gedan- ken gründlich zu verwirren. Zweifelnd und doch faszi- niert, schließt sich der junge Mann aus Oklahoma kurze Zeit der Hippie-Gruppe an, bevor er als Soldat einge­ zogen wird. Eine Lovestory zwischen ihm und einer Tochter aus reichem Haus, die ebenfalls Gefallen am alternativen Leben findet, sorgt schließlich für eine dramatische Wendung im sorglosen Alltag der Blumen­ kinder …AmAltonaer Theater inszeniert Joseph Dieken das berühmte Happening keineswegs als nostalgisches Museumsstück: „Die Kriege sind geblieben – gegen die Frauen, die Erde, die Tiere, die Andersdenkenden“, so der Regis-seur. Richtig, und doch gibt es Hoffnung: „Let the Sunshine in“! (def) ALTONAER THEATER, ab 12.9. Foto: G2 Baraniak ISBN978-3-946677-63-5 SPEZIALNR.8 2021/2022 |€7,50 WOHNEN+LEBEN REINGESCHAUT Sowohnenund leben HamburgsGastgeber EINGERICHTET WiedieNachhaltigkeit beiunseinzieht ABGERAUSCHT WarumdasLebenam Stadtrand so schön seinkann SPEZIALNR.8 SZENEHAMBURGWOHNEN+LEBEN2021/2022 €7,50 HAMBURGS LIVING GUIDE Titelseite_Wohnen+Leben.indd 1 23.07.21 18:43 Jetzt NEU! Im Handel oder online über www.meine-zeitschrift.de szene-hamburg.com LivingGuide_93x128.indd 1 20.08.21 15:57 11

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