Septermber 2020

34 Theater gegenüber nicht öffnet und misstrauisch Ab- stand hält. Gibt es hier Parallelen zur Corona-Zeit? Alle großen Stücke passen immer irgendwie in die Gegenwart, sonst wären sie keine Klassiker. Aber man muss den Gegenwartsbezug nicht forcieren, ich würde ihn sogar eher tarnen. Der Geiz ist nicht umsonst eine der sieben Totsün- den, und wir Theatermacher beschäftigen uns nun mal mit diesen Archetypen menschlicher Verfehlungen. Erzählungen bedienen sich da- bei bestimmter Formen. Nehmen wir die Fabel: Wenn man den Tierkopf abnimmt, der Fuchs letztendlich nur ein listiger Mensch ist, und wir uns nicht mehr im Tier entdecken dürfen, dann ist die Fabel kaputt. Das macht die Stücke klein, und es langweilt mich auch, wenn ich zu sehr belehrt werde. Ich denke, es steht schon ein tieferer Sinn dahinter, Dinge zu überhöhen, zu überspitzen, märchenhafter oder allgemeingül- tiger zu machen, sodass man sie sich auch noch angucken kann, wenn wir längst nicht mehr an Corona denken. Derzeit machen die Staaten große Geldge- schenke, um dieWirtschaft anzukurbeln. Aber viele Menschen geben es nicht aus, weil sie besorgt in die Zukunft sehen. Wo verläuft die Trennlinie zwischen Sparsamkeit und Geiz? man die Menschen zum Lachen bringen? In mei- nem Fall natürlich wieder auf der untersten Ebe- ne. (lacht) Aber durch das Ensemble mit Jens Harzer an der Spitze ist ja immer auch Niveau mit an Bord. Ich habe am Thalia Theater wahn- sinnig fordernde Schauspieler, wie ich sie an noch keinem anderen Theater getroffen habe. Wenn man da auf einer Bananenschale aus- rutscht, tut man das auf eine philosophische oder gesellschaftskritische Weise. War es problemlos möglich, das Geprobte auf die Bühne zu übertragen? Ich hatte mir vorgestellt, das Stück gemeinsam mit den Schauspielern im Kopf komplett durch- zuarbeiten und zu -inszenieren, bis es so tief in uns drin sitzt, dass wir es spontan überall spie- len könnten: auf einer Party, in einem Zimmer oder auf der Straße. Als wir das erste Mal wie- der auf der Bühne standen, empfanden wir tie- fe Dankbarkeit, dass wir besser vorbereitet wa- ren als jemals zuvor. Andererseits mussten wir auch wieder ganz von vorne anfangen. „Der Geizige“ zählt ja zu den ganz großen Komödien und Charakterstudien, die eine extreme physi- sche Herausforderung für den Schauspieler sind. Mit der Charaktereigenschaft des Geizes verbinden wir die Vorstellung eines Men- schen, dessen Welt eng ist, der sich anderen Es geht nicht nur um Geiz und Sparsamkeit. Es geht um Großzügigkeit. Geiz ist etwas Patho- logisches. Sparsamkeit kann auch aus einem Verantwortungsgefühl resultieren. Ich müsste imGrunde viel sparsamer sein, weil ich vier Kin- dern zu ernähren habe. Da wird kein großes Erbe übrig bleiben, aber ich gebe eben lieber aus der warmen als aus der kalten Hand. Wenn wir aber über die Corona-Maßnahmen sprechen, wird deutlich, dass wir über neue Gesellschafts- formen nachdenken müssen. Wenn ein Staat fast schon wie ein Monarch am Volk vorbeifährt und ihmGoldstücke zuwirft, fragt sich das Volk natürlich: Wie viele Goldstücke sind eigentlich noch da? Und wo waren sie vorher? Warum gibt es denn kein bedingungsloses Grundeinkom- men und stattdessen unglaublich komplizierte Steuergesetze, die eine riesige Berufsgruppe ernähren. Wenn man das alles gegenrechnet, zahlt der Staat am Ende noch drauf. Hier kommt der Geiz ins Spiel: Wir gönnen dem anderen nicht, was wir selber haben. Leute, die ich unter- stützen möchte, sind in den Augen vieler ande- rer Nichtsnutze und Gammler. Ich sehe das so: Wer arbeiten kann und will, hat Glück gehabt, und wer nicht, soll deshalb nicht diskriminiert werden. Diskriminiert fühlen sich derzeit ja viele Men- schen und schließen sich deshalb großen Demonstrationszügen an. Zu Recht? Wenn 20.000 Menschen auf der Straße ihren Unmut kundtun, kann die Politik sie nicht ein- fach ignorieren und als dumm bezeichnen, nur um selbst als klug dazustehen. Da lauft etwas komplett falsch. Es fehlt an Aufklärung und Klar- heit. Wenn die Leute aggressiv werden, dann deshalb, weil ihnen die Kunst, die Berührung und der soziale Umgang fehlen. Ich erwarte von den Politikern auch, dass sie ihre Maßnahmen an empathische Worte koppeln. Sonst steuern wir auf eine zweite Katastrophe zu, in der es kein Erbarmen und keine Solidarität mehr geben wird. Schon gar nicht mit uns Künstlern, weil wir immer schon als reich, arrogant und überflüssig galten. Was erwarten Sie nach der Wiedereröffnung der Theater von Ihren Zuschauern, die dann auf Abstand sitzen werden? Da die Leute lieber in der Masse lachen und das Tragen von Masken auch unbewusst Ag- gressionen freisetzt, müssen wir aufpassen, dass uns das Coronavirus nicht zu extrem un- freundlichen Menschen macht. Ich kann mich an einen Streit im 3-D-Kino erinnern. Da hat sich einer zu Recht aufgeregt, weil ich kurz eine SMS gelesen hatte. Das wäre aber wohl kein Problem gewesen, wenn wir nicht beide diese großen 3-D-Brillen aufgehabt hätten. Wenn man einem Typen mit Spiegelbrille oder Mas- ke begegnet, denkt man doch gleich: Was will denn dieser Gangster von mir? So ist der Streit eskaliert. Wir müssen den Umgang miteinan- der wieder lernen. Wenn man den Mund nicht sieht, sollte man mal versuchen, mit den Au- gen zu lachen. Das kann man trainieren. Ich mache das täglich vor dem Spiegel. Interview: Sören Ingwersen Foto: Armin Smailovic Geld, Gier, Geiz: Jens Harzer in der Rolle des Harpagon

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