Septermber 2020
Alexander, vier Tage Live-Kultur stehen mit dem diesjährigen Reeperbahn Festival an. Welches Gefühl begleitet dich im Vorfeld am ehesten: Euphorie? Skepsis? Angst? Oder alles zusammen? Alexander Schulz: Angst habe ich keineswegs, und skeptisch bin ich auch nicht. Ich spüre eher so eine Melancholie, wenn ich an die notge- drungen schlecht besetzten Clubs und Säle den- ke. Andererseits kribbelt es bei mir auch schon sehr, weil Musik wieder auf Bühnen kommt und man sie mit allen Sinnen wahrnehmen darf. Es ist also ein merkwürdiger Gefühlsmix, der mich momentan begleitet. Ich bin gespannt, wie al- les wird, für mich ganz persönlich und für alle anderen, die dabei sein können. Da klingt eine Zuversicht durch, dass schon alles klappen wird. Was macht dich denn so sicher: allein euer Konzept? Oder auch das Vertrauen in ja immerhin Tausende Besucher? Die Besucherzahl ist für unsere Verhältnisse sehr übersichtlich, bis zu 2.500 Leute, aufgeteilt auf zwanzig Spielorte können es am Tag werden. Speziell in dieser Zeit bietet uns die Überschau- barkeit ganz neue Möglichkeiten: Wir kennen jeden einzelnen Gast in jedemClub mit Namen. Und für jeden gibt es zahlreiche Regeln, die auf unserer Homepage in den FAQs erklärt werden. Sollte tatsächlich eine Infektion ausbrechen, ge- lingt es uns sofort, nur diejenigen zu informie- ren, die mit der betroffenen Person im selben Raum waren, und das weitere Infektionsrisiko enorm klein zu halten. Darum geht es, und da- rum wird es auch in Zukunft gehen. So lange kein Impfstoff da ist, müssen wir einen gesun- den Mittelweg finden zwischen demWeiterfüh- ren von kultureller Rezeption und der Pandemie. Musik Mag sein, dass Kulturentzug nicht so schlimm ist wie zum Beispiel Bildungsentzug, aber es müssen Spielräume gelassen werden, damit Kul- tur auch in einer Zeit wie dieser möglich bleibt, um eventuelle Kollateralschäden zu vermeiden. Und was wir fürs Reeperbahn Festival vorberei- tet haben, ist wirklich sehr vernünftig. Klingt nach kontrollierter Offensive. Total! Es ist ein Wiedereinstig mit ruhiger Hand. Und was entgegnest du Kritikern, die den- noch sagen, dass es gerade jetzt, da eine Angst vor einer zweiten Welle besteht, viel- leicht keine gute Idee ist, ein internationales Festival durchzuführen, so sehr es sich auch an die Richtlinien hält? Dass wir ja gar nicht entscheiden, dass das Fes- tival stattfinden kann. Wir haben nur ein Kon- zept auf Basis des geltenden Erlasses der Stadt Hamburg entwickelt. Und ich glaube an unsere Gesetzgebung und an diejenigen, die die Er- lasse verfassen. Wenn sie morgen sagen wür- den, dass Veranstaltungen mit mehr als 100 Leu- ten bis zum 30. September nicht stattfinden dür- fen, dann wäre das so, und dann müssten wir uns überlegen, ob wir uns anpassen und wei- terhin das Reeperbahn Festival durchführen wol- len. Es heißt, ihr würdet euch schwerpunktmäßig sehr um den Diskurs über Kulturwirtschaft und ihre Rolle in Krisenzeiten kümmern. Wie siehst du die Rolle der Branche in der aktu- ellen Krise? Corona war bisher ja wie eine Lupe, unter der wir viel gesehen haben. Zum Beispiel, welche Missstände es gibt, Stichwort Spaltung der Ge- sellschaft – und das nicht nur in Deutschland, sondern global. Es sind viele Baustellen sehr deutlich geworden, zu denen sich die Kultur- wirtschaft mal zu Wort melden könnte, und zwar als verbindendes Element. Ich weiß, es ist schwierig für viele Künstler, sich nicht nur durch ihr Werk, sondern zusätzlich theoretisch zu äu- ßern. Aber speziell in diesem Jahr werden wir in unseren musiktheoretischen Angeboten beim Reeperbahn Festival daran arbeiten. Es ist nun eine Art Versuch. Was genau könn- te denn das bestmögliche Outcome dessen sein? Dass Künstler und Besucher nicht völlig abge- turnt sind von der Situation, in der eben nur sehr wenig Publikum möglich ist. Es ist auch ein At- mosphäre-Test: Wie fühlt sich das jetzt an für die Beteiligten? Wir fänden es schön, wenn am Ende alle sagen würden, dass es auf diese Wei- se immer noch besser ist, Kultur zu genießen, als es seit April war. Auch wäre es wünschens- wert, wenn Konzertbesucher dazu bereit wären, künftig drei oder vier Euro mehr für einen Auf- tritt zu bezahlen, weil sie verstehen, dass es sich sonst – außerhalb des Reeperbahn Festivals – ökonomisch nicht für Clubs und Künstler aus- geht. Und: Wenn wir das jetzt mal alle zusam- men so durchhalten, wie es eben ist, können wir irgendwann auch noch mal geschlossen an die Politik herantreten und sie bitten, jedem Solo- Selbstständigen, jedem Ton- und Bühnentech- niker, jedemMonitor-Mann, jedem Security-Mit- arbeiter unter die Arme zu greifen. Das wäre mein Traumergebnis des diesjährigen Reeper- bahn Festivals. Befasst du dich auch mit einemWorst-Case- Szenario? Es kann schon sein, das alle sagen werden: „Das ist doch atmosphärischer Murks!“ Aber selbst dann werden wir die Politik um weitere Hilfen für die Branche bitten. Wie hoch sind denn aktuell die Hilfen von Land und Bund fürs Reeperbahn Festival? Wir bekommen weitere 500.000 Euro vom Land und 800.000 Euro vom Bund, um unser Konzept auszuprobieren. Hat der Hamburger Senat auch auf die Wich- tigkeit des Festivals für die Stadt gepocht und euch mitgeteilt, dass es in diesem Jahr auf jeden Fall stattfinden sollte? Nicht, dass es auf jeden Fall stattfinden sollte. Uns wurde nur gesagt: „Guckt euch die Erlasse an, die zum Festival-Zeitraum gelten, und über- legt euch, ob ihr eine plausible, die Eindäm- mungsmaßnahmen gegen die Pandemie res- pektierende Lösung findet. Wenn ihr eine habt, könnt ihr gerne noch mal fragen, ob wir euch zusätzlich unterstützen können.“ Das haben wir gemacht. Normalerweise kriegen wir vom Land 410.000 Euro im Jahr, jetzt wurden noch mal 500.000 draufgepackt. Wenn wir schon bei Zahlen sind: Bis Mitte Juni hieß es noch, dass bis zu 4.000 Besucher pro Tag möglich wären an 30 Spielstätten. Dann seid ihr aber noch mal runtergegangen auf nur bis zu 2.500 Besucher pro Tag an 20 Spielstätten. Genau, zum 1. Juli gab es ja einen neuen Erlass, mit verschärften Abstands- und Getränkeaus- schankregeln. Wir haben uns alle geplanten Spielorte angeschaut, auch wie die einzelnen Clubs nach dem Reeperbahn Festival weiter- machen würden – bestuhlt oder nicht, mit Ge- tränkeausschank oder nicht – und danach hat sich diese neue Kapazität ergeben. Die Spielorte unterliegen streng dem Hygi- enekonzept, werden nach jeder Veranstal- tung gesäubert und desinfiziert. Aber Festi- val-Gänger, so wenig es dieses Jahr auch sein werden, wollen drum herum auch feiern, trin- ken, ausgelassen sein. Besteht auch in diesem Punkt keine Angst, dass das Reeperbahn Fes- tival zum Anstieg der Infektionszahlen in Hamburg betragen könnte? Ich gehe davon aus, dass wir sehr gut abliefern werden und dass unsere Besucher sich an die Vorgaben halten. Wenn nicht, werden sie des Hauses verwiesen, da werden wir knallhart durchgreifen. Zudemwerden wir uns immer da- rauf berufen können, dass wir das Festival im Rahmen der Möglichkeiten und der Notwen- digkeiten durchgeführt haben. Interview: Erik Brandt-Höge reeperbahnfestival.com 13
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