hamburg:pur August 2025

Foto: Nicole Marianna Wytyczak THEATER INTERNATIONALES SOMMERFESTIVAL Raumzum Träumen und Driften Theater, Performances, Konzerte und mehr – auf Kampnagel feiern viele der rund 60 verschiedenen Produktionen den Schwebe­ zustand zwischen Realität und Fiktion de, überraschende, zuweilen auch bedrohliche Logik der Träume an den Grundfesten vermeint­ lich festgefügter Realitäten. Für András Siebold, den künstlerischen Leiter des Sommerfestivals, bildet Holzingers dras­ tisches Spektakel zusammen mit einem Tanz­ stück von Marlene Monteiro Freitas die weithin leuchtende Klammer des Festivals: „Nôt“ er­ öffnet am 6. August nicht nur den sommer­ lichen Reigen mit Tanz, Performances, Theater, Konzerten, Lesungen und Partys auf Kampna­ gel, es war auch die Eröffnungsproduktion des diesjährigen Festival d’Avignon. Dabei übersetzt die kapverdische Choreografin das Geschich­ tenerzählen als Überlebensstrategie, wie Sche­ herazade es in „Tausendundeine Nacht“ prak­ tiziert, in Tanz und Bewegung. Freitas und Hol­ zinger – dem Kampnagel-Festival seit Jahren verbunden – werden unter der neuen Intendanz von Matthias Lilienthal ab 2026 auch für die künstlerische Ausrichtung der Berliner Volks­ bühnemitverantwortlich zeichnen. Für Siebold zwei von vielen Beispielen, dass das Kamp­ nagel-Festival sich längst zum Impulsgeber der internationalen Szene gemausert hat: „Wir wa­ ren quasi jahrzehntelang der Underdog. Inzwi­ schen schauen die anderen großen Festivals und Häuser sehr genau hin, was bei uns pas­ siert oder produziert wird.“ Dass sich genaues Hinschauen lohnt, bezeugt das diesjährige Programm in vielfacher Hin­ sicht. So lockt das Sommerfestival unter an­ derem mit drei Ur- und acht deutschen Erst­ aufführungen: Auf der Basis von Erzählungen Schwarzer Frauen über Sexualität kreieren die US-amerikanische Rapperin Akua Naru, der Pulitzer-Preis-gekrönte Komponist Tyshawn Sorey, das Ensemble Resonanz und Regisseu­ rin Anta Helena Recke die Konzertinszenierung „Longing to Hell – The Blues Opera“ (14.–16.8.). Auch die Tanzperformance „Autothérapie“ (7.–9.8.) ist eigens für das Festival entstanden. Mit einer expressiv-sensiblen Bewegungsspra­ che, die Elemente aus HipHop, Jazz, Ballett und traditionellen haitianischen Tänzen ver­ webt, erzählt Mackenzy Bergile die kollektive Geschichte kolonisierter Körper. Eine weitere Uraufführung – „Major“ (7.–10.8.) – stammt von der New Yorker Choreografin Ogemdi Ude. „Ihre Arbeiten wurden noch niemals in Europa gezeigt. Bei uns arbeitet sie mit Majorette-Tän­ zerinnen, einem von Cheerleading und militä­ rischem Formationstanz inspirierten Tanzstil, der traditionell mit Schwarzen US-Hochschu­ len verbunden ist und durch Beyoncés ,Home­ coming‘-Tour auch die Popkultur beeinflusst hat“, erzählt Siebold. Unter den deutschen Erstaufführungen sticht Carolina Bianchis Theaterarbeit „The Brother­ hood“ (14. –16.8.) hervor. Während die brasi­ lianische Performerin im ersten Teil ihrer „Cadela Força“-Trilogie K.-o.-Tropfen auf der Bühne nahm und so ihren eigenen Körper aufs Spiel setzte, befasst sie sich im zweiten Teil mit den männlichen Machtdynamiken von Bru­ derschaften. „Ich habe selten Stücke erlebt, in denen ich von der ersten bis zur letzten Minute so hellwach im Theater saß“, schwärmt Siebold, der einer Aufführung bei den Wiener Festwochen beiwohnte. „Bianchis ,The Bro­ therhood‘ sollte ein Pflichtprogramm für alle Menschen sein, die beruflich mit Theater zu tun haben, weil es die perfide Logik des männ­ lichen Machtmissbrauchs in diesen Institutio­ Durch eine riesige Gummivulva zwängen sich die Performerinnen auf die Bühne. Ein Embryo wird aus einer Beinwunde herausgeschnitten, Kunst-Kacke fließt in Strömen. Florentina Hol­ zingers neueste Produktion, die imMai dieses Jahres in der Volksbühne Berlin uraufgeführt wurde, ist ein Fest der Extreme, das den Kör­ per zum Experimentierfeld von Optimierungs- und Unsterblichkeitsfantasien macht und zugleich seine Verfallserscheinungen thema­ tisiert. Ihr Titel „A Year Without Summer“ scheint das Internationale Sommerfestival auf Kampnagel, wo eine neue Fassung dieses apo­ kalyptischen Musicals zu sehen ist (21.–24.8.), zu konterkarieren, unterstreicht aber die dies­ jährige Programmatik: Frei nach demMemoir „Room to Dream“ des im Januar verstorbenen Filmregisseurs David Lynch rüttelt auf dem Festival-Gelände und an vielen anderen Orten der Stadt neunzehn Tage lang die entgrenzen­ 10 THEATER nen zeigt. Eine wirklich demaskierende Arbeit, bei der es einem kalt den Rücken runterläuft.“ Ein wahres Fest der Sinne hingegen darf man bei „Inhale Delirium Exhale“ (7.–10.8.) erwar­ ten. Mit sage und schreibe drei Kilometer Stoff flutet die Theatermacherin und bildende Künstlerin Miet Warlop, die bei der nächsten Kunstbiennale in Venedig den belgischen Pa­ villon gestalten wird, die Bühne und lässt mit ihren sechs Performerinnen und Performern immer neue flüchtige Landschaften und Ge­ bilde entstehen. Verglichen damit begnügt sich Anacarsis Ramos mit einer geradezu minima­ listischen Ausstattung. In „Mi madre y el di­ nero“ („Meine Mutter und das Geld“) (21.–23.8.) steht der mexikanische Dramatiker und Re­ gisseur mit seiner leiblichen Mutter zusammen auf der Bühne. „Sie erzählt von ihren zahlrei­ chen prekären Jobs, mit denen sie ihren Sohn die letzten 40 Jahre durchgebracht und ihm ermöglicht hat, als schwuler Mann in Mexico City Theater zu studieren. Das Stück lebt von der unglaublich menschlichen Art der Mutter, die nun quasi ihren 51. Job als Schauspielerin ausführt“, sagt Siebold. In deutscher Erstaufführung zu erleben sind auch Gabriela Carneiro da Cunhas Perfor­ mance „Tapajós“ (21.–23.8.) über brasiliani­ sche Flüsse als Zeugen von Umweltkatastro­ phen und Oona Dohertys surreales, mytholo­ gisch aufgeladenes Tanzstück „Specky Clark“ (13.–16.8.) über die Entbehrungen einen Waisenjungen in Belfast. Zudem wird die iri­ sche Choreografin einen ganztägigen Perfor­ mance-Parcours gestalten, in dem am 16. Au­ gust in allen sechs Häusern der Kunstmeile Hamburg Tanz den Dialog mit bildender an angewandter Kunst sucht. Mit Christoph Marthalers Berghüttenschauspiel „Der Gipfel“ (20.–22.8.) und Nestervals immersivem Frem­ denfeindlichkeitsdrama „Das alte Dorf“ (11.– 14.8.) imMuseumsdorf Volksdorf melden sich noch zwei weitere Wiederholungstäter beim Internationalen Sommerfestival zurück. Nach­ haltige Erlebnisse sind auch vorprogrammiert, wenn die Symphoniker Hamburg, der Carl- Philipp-Emanuel-Bach-Chor und Sprecherin Isabelle Huppert im Großen Saal der Elbphil­ harmonie mit Rufus Wainwrights „Dream Requiem“ (22.8.) zur klangprächtigen Refle- xion über die Endlichkeit des Lebens einladen. Natürlich lockt das Sommerfestival wie jedes Jahr auch darüber hinaus mit Musik jeglicher Couleur, vomWohlfühl-Soft-Rock der New Yor­ ker Band Infinity Song (6.8.) über die dunkel abgeschattete Weltsicht der britischen Sängerin Anika bis zum ghanaischen Frafra- Gospel einer Florence Adooni (13.8.). Die Avantgarde-Pop Cellistin Mabe Fratti trifft auf transzendentale Klänge des Japaners Tomo Katsurada (21.8.). Seun Kuti und seine Band Egypt 80 (16.8.) befeuern den Afrobeat, und auch der Hamburger Popkünstler Andreas Dorau (17.8.) gibt sich die Ehre. Darüber hin­ aus kann man auf der Waldbühne im Avant- Garten Lesungen lauschen sowie Musikerin­ nen und Musiker kennenlernen, die die Vielfalt der Stile und Kulturen feiern. An jedem Frei­ tag- und Samstagabend verwandelt sich der Garten überdies in eine Tanzfläche. Der Som­ mer auf Kampnagel wird heiß. Text: Sören Ingwersen Internationales Sommerfestival, Kampnagel, 6.–24.8.. 31.8. – 5.10.2025 WIE IM HIMMEL AS IN’N HEVEN VON KAY POLLAK

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