Hamburg Pur - August 2021
NewOrder – Die neueWeltordnung „Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen“ – so lautet der Titel eines abstrakten Gemäldes, das in „New Order – Die neue Welt- ordnung“ gleich in den ersten Momenten zu sehen ist. Bunte Farb- kleckse und -linien schießen in alle Richtungen und vermitteln vor al- lem einen Eindruck: Chaos pur. Was den Zuschauer in Michel Francos kontrovers diskutiertemDystopie-Thriller erwartet, deutet sich schon im unvermittelten Einstieg an. Das Bild hängt, wie wir etwas später erfahren, in der Villa einer einfluss- reichen Familie. Eben dort findet die prunkvolle Hochzeit von Marianne Foto: Ascot Elite Entertainment Foto: 2020 PROKINO Filmverleih GmbH KRITIKEN (Naian González Norvind), einer der Töchter des Hauses, statt. Die Stimmung unter den betuchten Gästen ist aus- gelassen. Sehr früh mischen sich aber auch Störgeräu- sche in die allgemeine Heiterkeit. Das Sicherheitsperso- nal ist angespannt. ImRadio wird von Aufständen berich- tet. Einige Besucher kommen aufgrund der Unruhen zu spät. Aus demWasserhahn tropft eine grüne Flüssigkeit. Und zur Verärgerung der Brautmutter taucht ausgerech- net an diesem Tag ein früherer Angestellter auf, weil er dringend Geld für die Operation seiner Frau benötigt. An ein Fest ist schließlich nicht mehr zu denken, als der äu- ßere Furor die Mauern des Anwesens überwindet. Mit „New Order – Die neue Weltordnung“ wirft Franco einen schonungslosen Blick in die nahe Zukunft: Was würde passieren, wenn die Kluft zwischen Arm und Reich unüberwind- bar wäre? Wenn nur noch Hass regierte? Und wenn durch den Zusam- menbruch des Systems plötzlich ein Machtvakuum entstünde? Ent- lang dieser Fragen entwirft der Mexikaner einen Film im Geiste des südkoreanischen Oscar-Triumphators „Parasite“. Anders als dessen Schöpfer Bong Joon-ho sprengt Franco allerdings konsequent klas- sische Erzählstrukturen. Die Gesamtzusammenhänge bleiben nebulös. Ständig wechselt die Perspektive auf das Geschehen. Und Zeitsprün- ge sind nicht markiert. Das Ergebnis ist ein irritierendes, unbequemes Werk, das man so leicht nicht aus den Knochen schüttelt. (sd) AB 12. AUGUST MEXIKO 2020; 88 Min.; R: Michel Franco; D: Diego Boneta, Fernando Cuautle, Naian González Norvind ★★★ ★★ FALLING Schauspieler, Fotograf, Musiker, Dichter und Maler – der 1958 gebo- rene Viggo Mortensen ist vielseitig begabt. Bekannt wurde er aber vor allem durch seine Arbeit auf der großen Leinwand, die ihm unter an- derem drei Oscar-Nominierungen einbrachte. 35 Jahre nach seinem Kinodebüt als Darsteller versucht sich das Multitalent nun auch als Regisseur und Drehbuchautor an einem in Teilen persönlich gefärbtem Familiendrama. In „Falling“ verkörpert Mortensen John Peterson, der mit seinem Ehe- mann und seiner Tochter ein beschauliches Dasein in Kalifornien führt. Als Johns Vater Willis (Lance Henriksen) an Demenz erkrankt, nimmt ihn sein Sohn trotz vieler schlechter Erfahrungen vorübergehend bei sich auf und möchte ihm bei der Suche nach einer neuen Bleibe in der Umgebung helfen. Der engstirnige, erzkonservative Rentner aus dem Mittleren Westen schürt jedoch sofort alte Konflikte und lässt John unmissverständlich spüren, dass er dessen Lebensstil abscheulich findet. Dennoch versucht der Attackierte, seinem Gegenüber mit Ge- duld und Nachsicht zu begegnen. Mortensens erste Regiearbeit präsentiert sich als ständiges Wechsel- spiel zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Nicht nur der Sohn, auch sein Vater taucht regelmäßig in die Welt der Erinnerungen ab. Auf die- se Weise bekommt der Zuschauer ein Gefühl für ihre schwierige Be- ziehung. Die Figurenkonstellation – hier der weltoffene, schwule John, dort der reaktionäre, mit homophoben und misogynen Tiraden um sich werfende Kotzbrocken Willis – hat sicherlich einen gewissen Reißbrett- charakter. Durch die eindringlichen Darbietungen der beiden Haupt- darsteller erhalten die Diskussionen aber eine schmerzhafte Wahr- haftigkeit. In manchen Momenten beweist Mortensen einen guten Blick für familiäre Dynamiken. Am Ende wünscht man sich unter dem Ein- druck einiger ständig wiederkehrender Streitpunkte allerdings, dass der Film erzählerisch etwas facettenreicher ausgefallen wäre. Rundum überzeugen kann das Vater-Sohn-Porträt leider nicht. (cd) AB 12. AUGUST USA 2020; 112 Min.; R: Viggo Mortensen; D: Viggo Mortensen, Lance Henriksen, Laura Linney ★★★ ★★ 40 41 Doch das Böse gibt es nicht Der Goldene Bär der Berlinale ging im vergangenen Jahr nach Ham- burg, an den Regisseur Mohammad Rasoulof, der seit 2012 in der Han- sestadt lebt, gerade aber im Iran festgehalten wird. Seit er 2017 dort einreiste und wegen angeblicher „Propaganda gegen das System“ ver- urteilt wurde, darf er sein Heimatland nicht verlassen. Demonstrativ blieb sein Stuhl auf der Pressekonferenz der Berlinale leer, als sein Film bewegt geehrt wurde. Dieses intelligente und packende Drama, das in vier Episoden von der Todesstrafe erzählt und von persönlicher Frei- heit in Zeiten der Unterdrückung. Parfumdes Lebens Verzweifelt kämpft Chauffeur Guillaume Favre (Grégory Montel) um das Sorgerecht für seine zehnjährige Tochter Léa (Zélie Rixhon). Keine Chance, sein winziges Einzimmerapartment akzeptiert das Gericht nicht, größere Wohnungen sind in Paris unerschwinglich, und der Boss des Limousinen-Service droht ihm wegen seiner Tempoüberschrei- tungenmit Rausschmiss. Das Letzte, was der geschiedeneMittvierziger braucht, ist eine nervige Kundin wie Madame Walberg (Emmanuelle Devos). Arrogant, mürrisch kommandiert sie ihn herum wie einen La- kaien. Guillaume macht aus seiner Abneigung kein Geheimnis, und doch bucht ihn Anne Walberg für weitere Fahrten durchs herbstliche Frankreich. Mit der Zeit beginnt der Chauffeur die seltsame Frau und ihre Animositäten zu begreifen. Sie war Parfümeurin bei Dior, ein Weltstar, der edle Düfte wie „J’adore“ kreierte, dann aber ihren Geruchssinn verlor. Die Karriere war ab- rupt zu Ende, seitdem bevorzugt Anne die Einsamkeit. Ihren mittlerweile zurückgekehrten Geruchssinn nutzt sie, um eine originalgetreu nachgebaute Höhle mit prä- historischen Malereien für Touristen mit einem atmo- sphärischen Geruch zu versehen oder exquisite Leder- waren nicht ekelhaft riechen zu lassen. Den Kontakt mit Menschen fürchtet sie und schickt den selbstbewussten, eloquenten Guillaume fürs Verhandeln vor. Dann verliert Anne erneut ihren Geruchssinn. Frappierend, wie Regisseur GrégoryMagne die Zuschauer in die magische Welt der Düfte einschleust. Deren Ana- lyse und Entwicklung ähnelt den emotionalen Verflech- tungen: Es gilt zu erkennen, woran es fehlt, die Perspek KRITIKEN Foto: Grandfilm Foto: Happy Entertainment Da Rasoulof mit einem Berufsverbot belegt ist, haben die Darsteller den Film unter ihren Namen bei den Behörden eingereicht. Als schließ- lich gedreht wurde, war Rasoulof immer ganz in der Nähe und mit dem Team verbunden. Trotz dieser Umstände entstand ein Film, der von der Kraft seiner Bil- der lebt. Von den klaren und konzentrierten Einstellungen des Kamera manns Ashkan Ashkani, die so packend sind wie die Geschichten selbst. Sie führen durch die Straßen Teherans, Gefängnisgänge entlang, durch Wälder und in die Wüste und zeigen, welche Konsequenzen es hat, sich dem System zu verweigern oder eben nicht. Folgt die Idee des Films Václav Havel, der sagte, dass jeder Macht habe, indem er Nein sagt, beruhen die Episoden auf persönlichen Erlebnissen Rasoulofs, die ihn nicht mehr losgelassen haben. Wie die zufällige Begegnung mit einem Beamten, der ihn verhört hatte. Rasoulof saß im Auto, als er ihn plötz- lich aus einem Supermarkt kommen sah. Er fuhr ihm nach, beobach- tete ihn und realisierte, dass nichts Dämonisches an ihmwar. Die erste Episode erinnert daran, und die letzte dürfte wohl die persönlichste sein. Darin spielt Rasoulofs Tochter Baran eine junge Deutsch-Iranerin, die erfährt, wie eng das Schicksal ihres regimekritischen Onkels mit ihrem eigenen verwoben ist. „Die Fragen, die sie sich stellt, sind auch meine Fragen“, sagte die Hamburgerin, die ihren Vater auf der Berli nale vertrat und dort auch den Goldenen Bären für den besten Film entgegennahm. „Der ist für dich“, rief sie. (sd) AB 19. AUGUST DE, CZ, IRAN 2020; 150 Min.; R: Mohammad Rasoulof; D: Ehsan Mirhosseini, Shaghayegh Shourian, Kaveh Ahangar ★★★★ ★ tive zu verändern, positive Assoziationen zu wecken. Die beiden Prota- gonisten (schauspielerisch grandios) könnten kaumgegensätzlicher sein. Scharfsinnig erkennen sie die Schwächen des anderen, sind keine ge- duldigen Lehrmeister, trotzdem funktionieren ihre Ratschläge. „Parfum des Lebens“ ist mehr Drama als Comedy, hat jene schmerzlicheMelan- cholie, die an François Truffaut erinnert. GrégoryMagne durchbricht so die Tradition des „Ziemlich beste Freunde“-Genres, sein Humor ist sub- tiler, unauffälliger, eine Spur lakonisch. (ag) AB 19. AUGUST FR 2020; 100 Min.; R: Grégory Magne; D: Emmanuelle Devos, Grégory Montel, Gustave Kervern ★★★★ ★
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