August 2020
20 FILM Foto: Universal Pictures International Germany Wege des Lebens – The Roads not Taken „Papa“, ein gellender Schrei voller Angst hallt durch den langen düsteren Flur, dann steht die junge Journalistin Molly (Elle Fanning) vor dem Bett des Vaters, er lebt allein in einem ärmlichen Zimmer in Brooklyn. Leo (Ja- vier Bardem) starrt an die Decke, reagiert nicht, er leidet an einer Form von Demenz. Die völlig überforderte Molly versucht mit einem Übermaß an verzweifelter Zärtlichkeit, Geduld und ungelenkem Humor ihren Vater durch den stressigen Alltag mit Zahnarztbesuch, Inkontinenz, Panikatta- cken, blutiger Kopfverletzung und bissiger Ex-Ehefrau zu schleusen. Jede Taxifahrt wird zum Desaster. Während Leo nur undeutlich Worte stammeln kann, sich gegen alles wehrt, einen kleinen Hund klaut, in der Annahme, es wäre Nestor (sein längst ver- storbenes Haustier), entgleitet er immer wieder der Wirklichkeit. Was an- fangs nur wie Rückblenden anmutet oder fragmentarische Erinnerungen, entpuppt sich als zwei parallele, farbintensive, sonnendurchflutete Gedan- kenwelten. Was wäre geschehen, wenn sich der heute Fünfzigjährige da- mals in Mexiko für seine Jugendliebe Dolores (Selma Hayek) entschieden hätte? Ein Teil von ihm geht auf dem nicht eingeschlagenen Weg weiter. Was wäre, wenn? Mit Blick aufs Meer sinniert Leo, der einsame Schriftsteller, über das Ende seines unvollendeten Romans, Exil oder Rückkehr in die Heimat? Über jedem Szenario lastet der Schatten von Verlust, Trauer, Tod. Molly spürt, der Vater ist eigentlich ein Fremder für sie. Trotz der eigenen Frustration bemüht die Tochter sich während dieser oft beklemmenden 24 Stunden, das Unverständliche zu dechiffrieren, die Distanz zu überbrücken. Nic, der jüngere Bruder von Regisseurin Sally Potter litt ebenfalls an De- menz, er starb im Januar 2013. „Wege des Lebens“ ist eine intime und be- wegende Erfahrung. Die Autorenfilmerin orchestriert jene opulenten Bild- folgen, die manchmal an Federico Fellini erinnern, zu einem mitreißenden, metaphorischen Puzzle – nicht ohne absurde Komik. „Leos Beeinträchtigung kann man als paradoxes, magisches Geschenk be- greifen“, schreibt Potter in ihren Director’s Notes. „Er ist in der Lage, die inneren Grenzen zu überschreiten.“ Javier Bardem verkörpert grandios die Facetten seiner Figur, diesen Mix aus Schwermut, Qual, Sehnsucht und Ver- wirrung, ähnlich wie in dem Schuld- und Sühnedrama „Biutiful” von Ale- jandro González Iñárritu. (ag) AB 13. AUGUST USA 2020; 85 Min.; R: Sally Potter; D: Javier Bardem, Elle Fanning, Selma Hayek, Laura Linney ★★★★ ★ Foto: Carole Bethuel / Prokino Filmverleih Auf der Couch inTunis Für ihren ersten Spielfilm gewann Regisseurin Manele Labidi sogleich eine internationale Filmgröße als Hauptdarstellerin: Golshifteh Farahani. Die iranische Schauspielerin spielte unter anderem in „Der Mann, der niemals lebte“ von Regielegende Ridley Scott und in der Reihe „Fluch der Karibik“ mit und ist auch in der europäischen Filmszene aktiv. In der Komödie „Auf der Couch in Tunis“ spielt die seit 2009 in Frankreich lebende Schauspielerin Selma, die als Kind vor dem Bürgerkrieg in Tunesien nach Frankreich floh und nach ihrem Psychologiestudium in ihre Heimatstadt Tunis zurückkehrt. Dort eröffnet sie ihre eigene Praxis für Psychoanalytik, die nach anfänglichen Schwierigkeiten zunehmend von den Bewohnern der Stadt aufgesucht wird. Ein staatstreuer junger Polizist namens Naïm (Majd Mastoura) zwingt sie dazu, ihre Praxis, mangels Genehmigung, wieder zu schließen. Daraufhin drehen einige Patienten fast durch. Labidi erzählt eine humorvolle Geschichte über die Umstände und Verände- rungen nach dem Arabischen Frühling. Die Patienten, die auf Selmas Couch Platz nehmen, sind äußerst sympathische Stereotypen, mit Problemen, die durch die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten im Land entstanden sind. Auch Selmas Verwandtschaft spiegelt das Land wider, das lange vom Stillstand geprägt wurde. Ihr Onkel ist Alkoholiker, ihre Tante zutiefst unzufrieden und ihre Cousine, die für die Aufbruchsstim- mung im Land steht, ein rebellischer Teenager. Selma hingegen ist freiheit- lich eingestellt. Sie ist tätowiert, trägt Hosen, hält nichts von Kopftüchern, ist unabhängig und zündet sich eine Zigarette nach der nächsten an. Da- mit eckt Selma immer wieder bei tunesischen Behörden an. Gelingt es ihr dennoch, eine Zulassung für ihre Praxis zu erhalten? Durch ihr klischeebeladenes, urkomisches Filmdebüt hat die Regisseurin die ernsten Probleme der Bevölkerung nach den Folgen des Arabischen Frühling auf geschickte Art aufgegriffen. Der Film ist keine ordinäre Holly- wood-Komödie, er folgt vielmehr dem französischen Komödenstil. Ein ge- lungener Debütfilm einer jungen Regisseurin. Es wird spannend, an welches Genre Labidi sich als Nächstes wagt. (mk) AB 30. JULI Frankreich 2020; 88 Min.; R: Manele Labidi; D: Golshifteh Farahani, Majd Mastoura, Ramla Ayari ★★★★ ★
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