August 2020

19 KRITIKEN Foto: Visionen Filmverleih Foto: Pandora Filmverleih Dieser Film kommt ohne große Erzählung, ohne dramatische Zuspitzung ohne allzu viel Gewalt aus – und ist doch kraftvoll, von einer erhabenen Eleganz und filmischen Virtuosität. Er bleibt spannend bis zur letzten Minute. Diese Span- nung entsteht aus Gesprächen, Blicken und den Emotionen, die sich plötzlich und unberechenbar Bahn brechen. Das macht den Film authentisch, unmittelbar, unvorhersehbar. Highlight ist die auf wahren Begebenheiten beruhende Gegenüber- stellung von Bruscetta mit seinem ehemaligen Bekannten Pippo Calò (Fabrizio Ferracane), der zwischenzeitlich die Seiten gewechselt hat. Schon in der allerersten Szene, auf einem Berg- schloss in Palermo, ist eine Grundspannung zwi- schen den Familienclans spürbar. Die Blicke spre- chen Bände. Hier brodelt und sprudelt es unter der Fassade des zur Schau gestellten Familienfriedens. Und letztlich findet diese Anspannung ihre Entla- dung nicht nur über die Läufe der Pistolen und Ge- wehre, sondern eben auch über das gesprochene Wort im Gerichtssaal. Hier finden die zentralen Stel- len des Films statt. Hier wird die Frage nach Verrat und Schuld verhandelt ohne in eine Juristerei zu entgleiten. Und hier sitzen auch all die Mafiosi wie Raubtiere in den Käfigen, um dem Treiben vor Ge- richt zu lauschen und ab und zu laut zu fauchen. Durch Buscettas Geständnisse kam es allein in Italien zu 360 Schuldsprüchen. Es war der größte Schlag gegen die Mafia. Ein Schlag, der von innen kam, von einem der ihren. Er sei ein Ehrenmann, kein pentito (wie Verräter unter Mitgliedern der Cosa Nostra genannt wurden), versichert Bus- cetta in einem Gespräch mit Falcone und fragt, wenig später, nachdem den beiden ein Espresso serviert wird, wer von beiden wohl als Erstes dran glauben muss. Falcone antwortet mit melancho- lischem Blick: „Der Tod ist schon immer um ei- nen. Man stirbt und basta.“ Manchmal – und viel- leicht ist das die Quintessenz dieses Films – kann auch das bloße Wort töten und vernichten. Doch gerade das erfordert genauso viel Mut, als zu den Waffen zu greifen. Marco Arellano Gomes AB 13. AUGUST ITALIEN u. a. 2020; 153 Min.; R: Marco Bellocchio. D: Pierfrancesco Favino, Fabri- zio Ferracane, Fausto Russo Alesi ★★★★★ Eine Zugfahrt ist immer auch ein zufälliges Aufeinandertreffen von Menschen. Einigen be- gegnet man gern, anderen nicht, einige Unterhaltungen sind nett, andere eher aufdringlich. Wenn Helga Pato (Pilar Castro) also den Zug nach Madrid besteigt, auf den Psychiater Ángel Sanagustin (Ernesto Alterio) trifft, und der ihr unaufgefordert Geschichten von seinen Patien- ten erzählt, dann folgt das Kinopublikum ebenso neugierig und doch auch mit dem selben beklemmenden Gefühl, keine Fluchtmöglichkeit zu haben – wie in einem Zug eben. Die Fahrt ist aber lohnenswert. Erzählt wird zunächst die Geschichte von Martin Urales de Úbeda (Luis Tosar), einem ehemaligen Soldaten, der im Kosovo-Krieg einer Ärztin begegnet, die im Krisengebiet ein Kinderkrankenhaus betreibt, sich in politischen Kreisen prostituiert und aufgrund der finanziellen Not des Spitals widerwillig einem Deal zustimmt – mit grau- samen Folgen. Auch die Geschichten der weiteren Patienten – eine skurriler als die andere – ziehen den Zuschauer in den Bann. Erst spät wird deutlich, dass deren Leben irgendwie alle miteinander verwoben sind – auch wenn nie ganz klar wird, wie. Der Film wirkt wie eine Aneinanderreihung von Kurzgeschichten, die zusammen einen Film ergeben. Das gleicht dem Prinzip einer Matrjoschka, jener russischen Steckpuppe, die immer wieder in zwei Hälften getrennt wird, sodass jeweils eine weitere Puppe zum Vorschein kommt. Die Lebensgeschichten, die dabei gezeigt werden, sind allesamt packend, intensiv und in starken, einprägsamen Bildern erzählt, wobei die Erzähltechnik sich jeweils, den unterschied- lichen Genres (Horror, Komödie, Tragödie) anpasst. Der Film, der auf dem Roman von Anto- nio Orejudo basiert, erzeugt unweigerlich verschiedenste Gefühlszustände – vom Schock, Mitgefühl, Ekel, der Verwirrung bis zur Ablehnung. Dieser Film dürfte daher ebenso viel Zu- spruch, wie Ablehnung erfahren – aber er bleibt unweigerlich im Kopf. Dem jungen spanischen Nachwuchsregisseur Aritz Moreno gelingt mit seinem ersten Spiel- film, nach seinem auf internationalen Festivals gefeierten Kurzfilm „Cólera“ (2013), ein in- tensives, unvergessliches Filmerlebnis, das durch seine verspielte, gewaltige, ausdrucks- starke und teils verträumte und farbgesättigte Bildsprache entfernt an „Die fabelhafte Welt der Amelie“ erinnert. Aufgrund mancher Szenen trägt der Film ein FSK 18-Kennzeichen. Für Hundeliebhaber hat der Streifen ein besonders leckeres Appetithäppchen (Vorsicht: bitter- schwarzer Humor!). Und ab sofort: Achtung vor den Müllmännern! (mag) AB 20. AUGUST Spanien 2020; 131 Min.; R: Aritz Moreno; D: Luis Tosar, Pilar Castro, Ernesto Alterio ★★★★ ★ Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden hamburg: pur Aktion! Für die Preview zumFilm „Il Traditore – Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra“ (dt. Fassung) am 10.8., 20 Uhr in den Zeise Kinos verlosen wir 10x2 Karten. E-Mail Betreff „pur: Traditore“ und Namen an verlosung@ vkfm.de ; Einsendeschluss: 9.8.

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