August 2018

FILM 36 HAMBURG Jakob Lass bringt Tino Hanekamps Romanvorlage als großen Rausch mit Tendenz zur Überdosis auf die Leinwand Die katastrophen- reichste Nacht des Jahres! SO WAS VON DA Es ist zum Kotzen. Im übertragenen genauso wie im wortwörtlichen Sinn. Irgendwann fischt Oskar (Niklas Bruhn) dann tatsächlich in der hochpro- zentigen Brühe, die er gerade ins vergammelte Klo gewürgt hat, nach seinem Handy. Schließlich muss er ja erreichbar sein für Kiez-Kalle, der ihm noch in dieser Nacht zehn Mille Schutzgeld ab- pressen will. Diese Nacht... Die letzte. Die letzte des Jahres. Und die letzte seines Clubs: Die „Ra- kete“ muss dichtmachen, weil das Gebäude ab- gerissen werden soll – Investorenkohle sticht Kulturraum, hier auf dem Kiez genauso wie an- derswo in Hamburg. Doch das sind längst nicht die einzigen Probleme, die Oskar durch den Kopf dröhnen. Nina, die sich merkwürdig benimmt. Rocky, der psychisch angeknackst zu sein scheint. Dessen halbtoten Vater. Die Innensenatorin. Die Party, die völlig aus den Fugen gerät. Und Ma- thilda. Mathilda … Scheißegal. Regisseur Jakob Lass haut dem Zuschauer die Endzeitstimmung, in der sich Oskar und seine Freunde befinden, mit voller Wucht ins Gesicht. Wie ein Rausch zieht diese tempo- und katastro- phenreiche Abrissnacht vorbei. Für manche der Statisten war es wohl ein realer: Die Produktions- firma hatte im November 2016 an vier Samstagen zur Party geladen. Möglichst authentisch sollte das Ganze wirken, und so tanzten und tranken sich insgesamt rund 3000 Hamburger zu Beats aus der Konserve und Live-Musik von Acts wie Mule and Man oder Großstadtgeflüster vor der Filmkamera ins Delirium (SZENE HAMBURG be- richtete in Ausgabe 12/2016). Oder versuchten es zumindest, denn bei laufender Kamera ist mächtig feiern gar nicht so einfach. Doch alles eine Frage des Pegels... Auch dem Cast scheint es stellenweise schwer zu fallen, richtig in Stimmung zu kommen. Niklas Bruhn alias Oskar Wrobel ist vor allem in den ru- higeren Passagen überzeugend; geht‘s um Alko- hol und Drogen, schießt er über das Ziel hinaus. Oder liegt es am Konzept? Wie schon bei seinen preisgekrönten „Love Steaks“ oder „Tiger Girl“ arbeitete Lass auch hier nur mit einem Skelett-Drehbuch. Die Dialoge sind improvisiert – der 37-jährige Regisseur glaubt, dass die Schauspieler dann authentischer agieren. Doch das funktioniert nur bedingt. Martina Schö- ne-Raunski, die die todkranke, durchgeknallte, liebenswerte Nina spielt, ist großartig und genau wie „Innensenatorin“ Corinna Harfouch dieser Aufgabe voll gewachsen. Dass Mathias Bloech, der hier den Rocky gibt, auch im wahren Leben Musiker (Frontman von Heisskalt) und mitnichten Schauspieler ist, wird stellenweise dagegen schmerzhaft deutlich. Auch andere Szenen und Gespräche (wie die zwischen Mathilda und Oskar) laden durch ihre Unbeholfenheit fröhlich zum Fremdschämen ein. Unterm Strich bringt Lass das Abrissparty- Cliquen-Gefühl der gleichnamigen Romanvorlage von Tino Hanekamp dennoch gut auf die Lein- wand, ein gewisser Flow ist durchaus da. Leider tendiert der Rausch aber stellenweise – auch in Sachen Kostüm und Schnitt – zur Überdosis. Ein bisschen weniger wäre da mehr gewesen. Hi Jakob! Du arbeitest nur mit Skelett-Drehbü- chern und besonderen Regeln. Eine davon be- sagt, dass möglichst in einem Rutsch und chro- nologisch gedreht wird, damit ein Flow entsteht. Hat die Verteilung auf die vier Party-Samstage das nicht sehr erschwert? Jakob Lass: Wir haben versucht, trotzdem mehr oder weniger chronologisch zu bleiben. Das ist natürlich immer nur bedingt möglich, da spielen ja auch andere Faktoren eine Rolle. Weitestge- hend ist uns das aber gelungen – zumindest im Vergleich zu vielen anderen Filmarbeiten, wo ja zum Teil Sekundenbruchstücke des Films völlig voneinander abgesetzt und in zusammengewür- felter Reihenfolge gedreht werden, zum Beispiel die Schlussszene ganz zu Beginn, die dort hinfüh- rende dann drei Wochen später und so weiter. Meiner Meinung nach macht es das den Schau- spielern fast unmöglich, wirklich in ihrer Figur anzukommen. Hatten die Schauspieler das Buch eigentlich ge- lesen? Ich stelle es mir sehr schwer vor, eine Szene zu improvisieren, wenn ich schon die Ro- manvorlage im Kopf habe. Ich habe ihnen die Entscheidung überlassen, ob sie den Roman lesen wollen oder nicht. Manche haben es getan, und andere, die glaubten, dass sie das behindert, nicht. Wir hatten ja auch noch das Skelettbuch, also quasi die Essenz des Rom- ans, mit der man arbeiten konnte. Jeder hat sei- ne eigene Lösung gefunden. Vor allem über die Figur der Innensenatorin wird politische Kritik transportiert: Überregulierung, Überwachungswut und auch, dass Geld häufig mehr zählt als kultureller Freiraum. Auch das Clubsterben wird angeprangert. Oder ist das jetzt überinterpretiert? Nein, das sollte man unbedingt so sehen. Das ist auch mein Blick auf Hamburg. Ich denke, da ist die Gentrifizierung noch spürbarer als in anderen deutschen Städten. Hier müssen viele Freiräume, Möglichkeitsräume geschlossen werden und mein Eindruck ist, dass das von der Politik aktiv und massiv vorangetrieben wird. Natürlich ist das ein Teil eines wirtschaftlich gesteuerten Gesell- schaftsmodells, aber eine politische Führung kann das forcieren oder auch nicht. Meinem Ge- fühl nach ist das in Hamburg sehr stark der Fall. In Berlin, wo ich lebe, wird das auch nicht verhin- dert. Aber es passiert nicht so schnell, nicht so brutal. Magst du eigentlich Silvester? Mag ich Silvester? Gute Frage. Meistens sind das ja so Partys, bei denen alle krampfhaft versuchen, es so richtig krachen zu lassen. Manchmal ganz lustig. Aber ich liebe diesen Mitternachtsmoment, wenn sich wildfremde Menschen in die Arme fal- len und gemeinsam in Gedanken nach vorne und nach hinten schwelgen und doch voll im Jetzt sind, an diesem kollektiv vereinbarten Jahres- wechsel. Text & Interview: Maike Schade AB 16. AUGUST R: Jakob Lass; D 2018; D: Niklas Bruhn, Martina Schöne-Radunski, Bela B. Felsen- heimer, Corinna Harouch, Mathias Bloech. 15. AUGUST 20:30 Uhr; Abaton-Kino; Premieremit Regisseur und Darstellern Foto: DCM / Gordon Timpen

RkJQdWJsaXNoZXIy MjI2ODAz