hamburg:pur Juli 2022
Foto: Jennifer Zumbusch THEATER Krause: Du lebst nur zweimal“, bei dem sie uns in Essen die Türen eingerannt haben, auch in München funktioniert, das müssen wir erst noch testen. Neben Ihren zahlreichen Intendanzen führen Sie auch Regie, schreiben Stücke und treten als Schauspieler auf. Kennen Sie irgendeinen physikalischen Trick, wie man aus einem 24-Stunden- einen 48-Stunden-Tag macht? Was sehr viel Zeitersparnis bringt und oft unterschätzt wird, ist die Deutsche Bundes- bahn. In den fünf Stunden von Düsseldorf nach München kann man viel lesen und schreiben. Gestern habe ich im Zug die gesamte erste Spielzeit für Neuwied terminiert. Man hört ja überall, dass die Theater nach Corona ihre Säle nicht mehr voll bekommen, weil die Menschen sich an ein anderes Leben gewöhnt haben. Ist es Zeit für die Kultur um- zudenken? Die Beobachtung kann ich leider bestätigen. Wir haben aber auch vor der Pandemie schon eine gewisse Eventisierung festgestellt. Be- liebte Stoffe oder Darsteller sorgen für rappel- volle Vorstellungen. Was hingegen nicht exakt den Vorlieben des Publikums entspricht, wird komplett ignoriert. Das gilt weniger für die Abonnenten, aber für den spontanen freien 18 Verkauf und ist sehr schade, weil Sehgewohn- heiten dadurch kaum noch verändert werden können. Dabei gilt doch gerade das Abonnenten publikum als eher konservativ … In Düsseldorf haben wir interessanterweise eine deutliche Zunahme an jüngeren Abon- nenten von Ende dreißig bis Ende vierzig fest- gestellt. In einer Umfrage haben die Leute ge- sagt, sie sehen sich nicht als typische Abon- nenten, aber ohne das Abo als Anreiz würden sie überhaupt nicht mehr ins Theater gehen. Das Abonnement spielt eine ähnliche Rolle wie die Mitgliedschaft in einem Sportstudio. Wenn man über deutsches Boulevardtheater spricht, kommt man an Ihrem Namen kaum vorbei. Wie stehen Sie zu diesem Begriff? Ich habe mich lange gegen diesen Begriff ge- wehrt. In Paris, wo das Boulevardtheater ent- standen ist, ist „Boulevard“ fast ein Schimpf- wort. Der Begriff leitet sich übrigens vom niederländischen Begriff „bulwerc“ ab. Das Bollwerk war die breit angelegte Ringstraße um die Kernstadt, die von Turmwächtern bewacht wurde. Gesindel, Prostituierte und Diebe wurden abgewiesen und haben sich dann auf demBoulevard aufgehalten, wo eine oft anzügliche, anrüchige Form von Theater entstanden ist. Heute kann sich das Boule- vardtheater aber ganz andere Ästhetiken er- lauben und viel abstrakter und theatralischer denken als noch vor zwanzig, dreißig Jahren. Es heißt, es sei schwieriger, eine gute Komö- die zu schreiben und zu inszenieren als ein ernstes Stück. Stimmt das? Ist das Gegenteil von lustig ernst? Das ist ein interessantes deutsches Missverständnis. Das Gegenteil von lustig ist traurig. Denn Lustiges kann – wie Trauriges auch – sehr ernst oder sehr unernst sein. Daher halte ich es für falsch zu sagen, es sei schwieriger, eine pointierte Komödie zu realisieren als einen traurigen oder dramatischeren Stoff. Ich glaube nur, wir sind viel eher bereit, einen traurigen oder dramati- scheren Stoff als künstlerisch wertvoll oder feuilletonistisch relevant zu akzeptieren. Die suggerierte Ernsthaftigkeit eines Themas stei- gert unsere Bereitschaft, etwas als literarisch wertvoll anzuerkennen. Die Komödie steht also auf einem schwierigeren Prüfstand, obwohl ich auch hier die situativen Vorgaben des Autors mit aller Ernsthaftigkeit zu inszenieren versu- che. Sich als Liebhaber imSchrank zu verste- cken, wenn der Mann mit dem Schäferhund nach Hause kommt – das ist nur von außen betrachtet lustig. Eine Szene, die ich selbst erlebt habe. BIDLA BUH HANSEATISCH – FRAKTISCH – GUT MUSIK-COMEDY DER SPITZENKLASSE 4. – 11.8.2022 Der Sommer im Ohnsorg! Foto: Ohnsorg-Theater THEATER Sie haben bisher 17 Theaterstücke geschrie ben, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Sehen Sie sich gerne an, wie andere Regisseure Ihre Stücke inszenieren? Wie tolerant sind sie gegenüber anderen Les arten? Erst mal schmeichelt es natürlich, wenn andere meinen Text auf die Bühne bringen wollen. Schwer tue ich mich nur bei der Urauf- führung. Aber ich habe auch wirklich skurrile Sachen erlebt. Einmal hat das Lettische Na- tionaltheater eine meiner Komödien völlig humorlos und mit erschütternder Dramatik inszeniert. Ein anderes Mal wurde der dritte Akt komplett gestrichen. Und im prüden Prag wurde „Aufguss“ – ein Stück, in dem es um Samenspender geht, fast zumSkandal. Ande- rerseits bin ich auch mir selbst als Autor gegen- über absolut respektlos und sage oft auf Pro- ben: „Kinder, das ist schlecht geschrieben, wir machen eine halbe Stunde Pause und ich kor- rigiere das.“ Woher nehmen Sie die Einfälle für Ihre Stücke? „Der Kurschattenmann“ habe ich geschrieben, nachdem ich meine Mutter in der Reha besucht hatte und auf einen Mann traf, der dort die äl- teren Frauen abgriff. „Aufguss“ habe ich ge- schrieben, nachdem ein guter Freund von mir seine Zeugungsunfähigkeit feststellte und mir anbot, mit seiner Frau ein Kind zu bekommen, weil sie sich so sehr eines wünschten. Das Stück „Helga hilft“, das jetzt nach Hamburg kommt, habe ich in erster Linie für Claudia Rie- schel geschrieben. Die Figur, die sie spielt, ist Claudia in Potenz mit einer Charaktereigen- schaft, über die ich mich bei ihr schon oft wahnsinnig aufgeregt habe – ich darf das sagen, weil wir eng befreundet sind. Daher hat das Stück auch etwas mit mir zu tun. Wichtig ist, dass man über etwas schreibt, das einen berührt, und nicht versucht, von vornherein lustig zu sein. Im Stück will Tante Helga allen helfen und stiftet dabei nur Chaos. Wasmacht sie falsch? Es gibt ja den schönen Goethe-Satz „Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“. Bei Helga ist es umgekehrt. Mit ihremHelfersyndrom, ihrer Neugier und der Suche nach Bedeutung, ge- boren aus der Einsamkeit, gibt sie immer genau die falschen Tipps. Welche Rolle spielen Wahrheit und Lüge in dem Stück? Helga fühlt sich der Wahrheit verpflichtet, macht aber die Erfahrung, dass die Leute, die die Wahrheit fordern, eigentlich mit der Lüge viel glücklicher sind und so lange nach der Wahrheit bohren, bis sie wieder zur Lüge wird, weil sie mit ihr besser leben können. Das Stück ist ein Plädoyer dafür, die Lüge nicht in jedem Fall zu verdammen. Interview: Sören Ingwersen 1. JULI BIS 7. AUGUST; Komödie Winter huder Fährhaus
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