Hamburg Pur - Juli 2021
Foto: Henrik Ohsten / Zentropa Illustration: shell / The Noun Project FILM DER RAUSCH Furioser Filmrausch Vier in einer Midlife-Crisis steckende Lehrer führen in „Der Rausch“ einen gewagten Selbstversuch durch: Sie wollen einen moderaten Alkoholspiegel halten, um ihr Leben wieder in Schwung zu bekommen. Was folgt, bleibt unvergesslich – vor allem durch die grandiose Darstellung von Mads Mikkelsen Dass Thomas Vinterberg seinen neuen Film fertigstellen konnte, ist alles andere als selbst verständlich. Denn kurz nach dem Start der Dreharbeiten zu „Der Rausch“ kam seine Toch ter Ida bei einem Autounfall ums Leben. Von diesem Schicksalsschlag schwer getroffen, entschied der dänische Regisseur und Dreh buchautor dennoch, die Produktion fortzuset zen. Freunde der Kinokunst dürfen darüber glücklich sein. Immerhin legt Vinterberg nach dem etwas formelhaften Katastrophendrama „Kursk“ nun eine mitreißend gespielte, mora lisch ambivalente Tragikomödie vor, die beim Europäischen Filmpreis mehrere Auszeichnun gen erhielt. „Der Rausch“ geht von einer schrägen Prä misse aus, die auf den ersten Blick einen plum pen „Hangover“-Abklatsch vermuten lässt: Gymnasiallehrer Martin (Mads Mikkelsen) hat nicht nur mit seiner eingeschlafenen Ehe zu kämpfen, sondern schafft es immer seltener, sich im Berufsalltag zu motivieren. Als er mit drei ebenfalls unzufriedenen Freunden und Kollegen in einer Geburtstagsrunde zusam mensitzt, beschließen die vier Männer, ein unkonventionelles Experiment durchzuführen. Stimmt es, wie ein norwegischer Psychiater hamburg: pur Aktion! Für eine Preview des Oscar-Preisträgers „Der Rausch“ am 19.7., 20:00 Uhr in den Zeise Kinos verlosen wir 10x2 Karten. E-Mail mit Name und Betreff „pur:Rausch“ an verlosung@szene- hamburg.com ; Einsendeschluss: 15.7. behauptet, dass der Mensch mit einem kons tant erhöhten Alkoholpegel zu größeren Leis tungen fähig ist? Der mit einemOscar ausgezeichnete Film (Bes ter Internationaler Film) erzählt von einer hand festen Midlife-Crisis und hält sich, da er kein pädagogisches Lehrwerk sein will, mit klaren Bewertungen zurück. Martins aufgestaute Ent täuschung wird in der Restaurantszene zu Beginn dank Mikkelsens fein austarierter Dar bietung schmerzhaft deutlich. Rauschpassa gen, in denen die famosen Hauptdarsteller alle Register ziehen, entfalten zum Teil einen stark komödiantischen Sog. Zugleich mutet das von Vinterberg und Tobias Lindholm verfasste Drehbuch den Protagonisten aber auch schrecklich entwürdigende Momente zu, die den Kontrollverlust über ihre „Studie“ offen baren. Seltsam faszinierend ist vor allem das Ende, das sich einem klassischen, fein säuber lich ausbuchstabierten Lerneffekt verweigert. (cd) AB 22. JULI Dänemark 2020; 116 Min.; R: Thomas Vinterberg; D: Mads Mikkelsen, Thomas Bo Larsen, Magnus Millang, Lars Ranthe ★★★★★ 44 45 Ich bin Dein Mensch Der riesige Erfolg ihres Netflix-Dramas „Un- orthodox“, für das Maria Schrader einen Emmy und zahlreiche andere Preise bekam, simmerte noch als die Regisseurin im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale auf die große Leinwand zurückkehrte. Mit der sonnigen Tragikomödie „Ich bin dein Mensch“, die in das Leben der Altertumsforscherin Alma (Maren Eggert) und in jede Menge absurder Situationen führt – und dabei existenzielle Themen berührt. Drei Wo- chen lang soll die Spezialistin für Keilschriften das Zusammenleben mit dem humanoiden Robotor Tom (Dan Stevens) proben. Gutaus- sehend ist er, charmant – und nach Almas Vorlieben und Bedürfnissen programmiert. Doch was bedeutet ein Gegenüber, das einem alle Wünsche scheinbar von den Augen ab- liest? Das immer nachsichtig und angemessen reagiert? Das von Algorithmen anstatt von Gefühlen getrieben ist und dabei so unheim- lich perfekt? Das sind die Fragen, die durch die wunderbar luftigen Sommerbilder von Kameramann Bene- dict Neuenfels wehen, die immer wieder über die Dächer Berlins führen und in Felder und Wälder hinein. Da steht Tom von Rehen um- KRITIKEN Foto: Majestic Filmverleih / Christine Fenzl Foto: The World Disney Company zingelt auf einer Wiese, die keine Angst vor demUnlebendigen haben. Für Alma selbst sind die Grenzen da längst schon verschwommen und auf diesem Grat zwischen dem Mensch- lichen und Perfekten, zwischen dem Unvor- hersehbaren und unkorrumpierbaren Statis- tiken, zwischen unerfüllten Sehnsüchten und programmiertem Glück balanciert diese un- gewöhnliche Liebesgeschichte. Spielerisch er- kundet sie, was unser Menschsein ausmacht und beleuchtet eine digitalisierte Welt, in der wir uns auch ohne Toms schon befinden, in der alles gezählt, strukturiert und maßgeschnei- dert wird und nichts dem Zufall überlassen. Auf der Berlinale wurde Maren Eggert als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet. Dan Stevens („Downton Abbey“), der als Roboter mit Huskyaugen und mit seltsam leeren Blick zwischen Mensch und Maschine laviert, hätte ihn ebenso verdient. Und einmal mehr Maria Schrader, die ganz unbeschwert von großen Dingen erzählt. (sd) AB 1. JULI Deutschland 2020; 104 Min.; R: Maria Schrader; D: Maren Eggert, Dan Stevens, Sandra Hüller ★★★★ ★ Nomadland Die Vereinigten Staaten galten lange als Sehn- suchtsort. Wo, wenn nicht hier, sollte der Traum eines besseren, freieren Lebens, wahr werden? Der „American Dream“ ist vielfach an der Wirklichkeit zerschellt. Diese harte Erkennt- nis durchzieht auch den Film „Nomadland“ von Regisseurin Chloé Zhao, der exemplarisch das Leben einer modernen Nomadin nach- zeichnet. Die 61-jährige Fern (Francis McDormand) ist Witwe und hat nach der Rezession von 2008 alles verloren. Sie packt ihre Sachen, verlässt Die weiten Landschaften und das detailreiche Naturschauspiel werden gekonnt von Kame- ramann Joshua James Richards eingefangen. Zu ihrer Schönheit tragen auch die gefühlvol- len Piano-Passagen von Ludovico Einaudi bei. Die cineastischen Bilder stehen in starkem Kontrast zum dokumentarischen Grundcha- rakter des Films. Ferns Erfahrungen als No- madin werden offenherzig und schonungslos gezeigt: Der Zuschauer spürt förmlich die nächtliche Kälte imVan, die wärmenden Son- nenstrahlen in der Wüste und den Geruch der mit Exkrementen gefüllten Plastikeimer. „Das letzte Stückchen Freiheit in Amerika ist ein Parkplatz“ steht im Vorwort der Buchvorlage der Autorin Jessica Bruder („Nomaden der Arbeit“) – und der mit sowohl mit den Oscars als auch Golden Globes in den zwei wichtigs- ten Kategorien „Bester Film“ und „Beste Re- gie“ ausgezeichnete Film fühlt sich zuweilen auch so an, als würde er wie seine Protagonis- tin im Parkplatz stecken bleiben. Echte Frei- heit gibt es dort für Fern nicht. Aus dem kapi- talistischen System gibt es kein Entrinnen: Immer wieder führt der Weg sie zurück, in die Lagerhallen von Amazon. (mag) AB 1. JULI USA 2020; 108 Min.; R: Chloé Zhao; D: Frances McDormand, David Strathairn ★★★★★ die Industriestadt Empire im ländlichen Neva- da und durchstreift mit einem Van die kargen Wüsten Amerikas, auf der Suche nach – ja wo- nach eigentlich? Auf ihrer Fahrt trifft sie un- zählige verlorene Seelen – gezeichnet von Druck, Dreck und Demütigungen. Menschen, die ihr ganzes Leben arbeiteten, um am Ende mit nichts dazustehen. Menschen mit den Namen Linda May, Swankie und Dave, denen nichts bleibt, als die Flucht in die Wüste. Dort finden sie die einzig verbliebene Freiheit – in Form von raumfüllender Leere.
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