hamburg pur - Juli 2020
14 der Perspektive eines Besuchers in maximal vier Minuten zusammengefasst. Einen genauen Plan gibt es nicht, die Szenen sind improvisiert. Nur die Grundstimmung steht fest: Gisiger begleitet den fiktiven Gast überschäumend vor Freude, endlich wieder einen Besucher empfangen zu dürfen. Der gebürtige Schweizer redet in hellster Aufregung, lacht, gestikuliert mit den Händen, winkt der Ka- mera zu, ihm zu folgen, rennt und rennt und rennt von Programmpunkt zu Programmpunkt. Der Dreh ist Teil des neuen digitalen Formats „4 Minuten Theater“ (4MT), das die Behörde für Kul- tur und Medien und Hamburgs Privattheater ins Leben gerufen haben. Und das bietet mehr als „nur“ den Stream einer Aufführung oder Szene: In kurzen, experimentierfreudigen Videos prä- sentieren Hamburgs Privattheater in kreativer Verdichtung ihre künstlerischen und kreativen Ansätze. Unterstützt werden sie dabei von den Hamburger Produktionsfirmen Hirn und Wanst, Studio17 und Dschungelfilm. Mit dabei sind unter anderem Geschichten aus dem Lichthof Theater, das sich an filmische Virtual-Reality-Experimente wagt, dem Ernst-Deutsch-Theater, dem St. Pauli Theater und dem Klabauter Theater. Das Projekt ist ein Lichtblick für Regisseure und Schauspie- ler, die in Zeiten der Pandemie nicht nur unter fi- nanziellem Druck stehen, sondern auch kreativen Durst haben, die ihr Publikum vermissen, die Aura eines gemeinsamen Abends. Und natürlich für alle Kulturliebhaber, die es vermissen, ausgehen zu können. „Die Privattheater haben gemeinsam mit Produktionsfirmen aus Hamburg einen Weg ge- funden, der Pandemie mit einer gehörigen Portion Charme und Optimismus zu begegnen und weiter sichtbar zu bleiben. Damit senden sie ein wich- THEATER tiges Signal: Wir sind noch da, wir machen weiter, wir freuen uns auf euch!“, kündigte Kultursenator Carsten Brosda das Format an. Seit dem 4. Juni erscheint jede Woche ein Beitrag, den Anfang machte der Engelsaal, Hamburgs älte- stes Privattheater. Der künstlerische Leiter Philip Lüsebrink zeigt in dem Video mit einem selbst- ironischen Augenzwinkern, wie Musik-Theater in Zeiten des Lockdowns dem Publikum filmisch nach Hause gebracht werden kann. Und zwar mit einer One-Man-Kurzperformance (gewitzte Schnitttech- nik macht’s möglich) der Operette „Das Land des Lächelns“ von Franz Lehár. Prinz Sou-Chong (Phi- lip Lüsebrink) erkennt darin, dass die kulturellen Unterschiede zwischen ihm und seiner geliebten Lisa (Philip Lüsebrink) viel zu groß sind. Trotz ih- rer Liebe finden sie nicht zueinander. Dazu gibt’s einen Blick hinter die Kulissen zummusikalischen Begleiter am Klavier (Philip Lüsebrink) und zum leicht versnobten Regisseur (Philip Lüsebrink). Eine Woche später folgte ein Video, das die Soli- darität unter Hamburgs Theatern demonstriert. Weil im Hansa Varieté gerade umgebaut wird, hat das St. Pauli Theater die Hans Boys zu sich auf die Bühne eingeladen, wo sie ein Mini-Konzert unter Einhaltung der Corona-Auflagen spielen. „Moin! Moin! Moin! Moin!“, röhrt Sänger Rolf Clausen uns Mikrofon und singt über Hamburger-Klischees: „Manche sagen, wir wären kühl / Hätten einfach kein Gefühl“. Stimmt natürlich nicht: „Ihr wisst nicht, was in uns geschieht / Also spielt nicht mit dem Feuer / Weil man nichts von außen sieht / Wir sind pures Dynamit.“ Zurück ins Die 2te Heimat. Thomas Gisiger ser- viert dem Gast „Riz Casimir,“ ein traditionelles Schweizer Gericht. „Damit zeigen wir unseren Gästen: So schmeckt die Schweiz“, sagt er und erzählt sehnsüchtig von seiner Kindheit in sei- ner ersten Heimat. Die Sehnsucht nach Betrieb, hier, in seiner zweiten Heimat, ist genauso groß: „Normalerweise sitzen hier 70 Menschen an der Tafel. Dieses gesellige Grummeln, das haptische Bei-den-Leuten-sein und ihnen auf die Schulter zu klopfen – das fehlt mir.“ Die letzten Monate waren schwer für Gisiger und seinen Mann Andreas Löher, mit dem er das The- ater gemeinsam betreibt. Wie für alle Theaterbe- treiber. Der Lockdown kam bekanntlich plötzlich, Veranstaltungen mussten abgesagt werden, Ein- nahmen fallen aus, gleichzeitig sind die laufenden Kosten hoch. Erst letztes Jahr sind Löher und Gi- siger in die Räumlichkeiten am Phoenixhof gezogen und haben dafür viel investiert. Viele treue Kun- den seien solidarisch und hätten darauf verzichtet, sich ihre Karten für abgesagte Veranstaltungen erstatten zu lassen, zudem sei die Soforthilfe der Kulturbehörde eine große Hilfe gewesen. Auch für das 4MT-Projekt ist er dankbar: „Es ist mir so wichtig, mit dem Publikum in Kontakt zu bleiben.“ Zum Abschluss gibt’s noch einen kleinen Absacker, genauer: einen „Absackerli“, wie der Schweizer sagt. Rhababerlikör von der eigenen Mutter. Dann ist der Abend vorbei. Ach, fast vergessen vor lau- ter Überschwang: Umarmen oder Handshake zum Abschied ist momentan ja nicht drin. Macht nicht, dann gibt’s eben den berühmten Corona-Foot- shake, ehe sich Martin D’Costa alias der fiktive Gast hinaus in die Abenddämmerung verabschiedet. „Komm bald wieder“, ruft Gisiger noch hinterher. Ulrich Thiele Foto: Ulrich Thiele
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