hamburg:pur Juni 2025
FILM Blindgänger Manchmal ist der Krieg sehr nah – als erlebtes oder vererbtes Trauma. Geflüchtete kommen seit Jahren nach Deutschland, und immer wieder rückt der Zweite Weltkrieg in unser Bewusst- sein – nicht nur als Erinnerung, sondern als Altlast ganz real unter unseren Füßen. Die Regisseurin Kerstin Polte hat darüber ein düsteres, sehr bewegendes Drama mit einem außergewöhn- lichen Ensemble gedreht, und zwar überwiegend in Hamburg. „Blindgänger“ spielt in nur einer Nacht, einer traumatisierenden, retraumatisierenden und auch befreienden Nacht. Lane (Anne Ratte-Polle) ist Bombenentschärferin, eigentlich im Team von Otto (Bernhard Schütz), doch in der Nacht einer Entschärfung ist der plötzlich verschwunden. Er hat sich aus Zwängen befreit, wie später zu sehen sein wird. Lanes Mutter Margit (Barbara Nüsse) hat den Zweiten Weltkrieg noch erlebt und sich seit Jahren in ihrer Mansarde verbarrikadiert, die nun wegen der Bomben- entschärfung evakuiert werden soll. Auch bei Junis (Ivar Wafaei) kommen schlimmste Erinnerungen hoch. Er ist aus Afghanistan geflüchtet und bei Viktor (Karl Markovics), Margits Nachbar, untergetaucht. Dies sind nur vier Charaktere in Poltes eindring- lichem Episodenfilm, in dem sie von einem Ausnahmezustand erzählt, der sehr unterschiedliche Menschen auf sehr unter- schiedliche Weise verstört. „Einige fürchten sich vor der Explo- sion, weil sie Erinnerungen und Ängste hervorruft, andere – wie Otto oder auch Lane – kämpfen gegen persönliche Bomben im eigenen Körper, physische oder psychische“, erzählte Polte im Rahmen des Filmfest Hamburg 2024, wo das Drama Premiere feierte. Die Figuren sind in den vielen Episoden mal mehr, mal weniger miteinander verbunden, ohne dass diese Verbindungen jemals konstruiert wirken. Vielmehr erzählen sie von der Frag- mentierung einer Gesellschaft, die doch zusammenfinden kann. Denn auf ihre Art öffnen sich all diese Menschen. In der bedro- henden Düsternis werden in Begegnungen Brücken geschlagen, die eine Gesellschaft wieder zusammenbringen kann. Ein sehr besonderer Film, der die dunklen Schatten der Vergangenheit zu einem hoffnungsvollen Ende bringt. Text: Britta Schmeis Regie: Kerstin Polte. Mit: Anne Ratte-Polle, Haley Louise Jones, Claudia Michelsen, Lukas von Horbatschewsky, Bernhard Schütz, Karl Markovics, Barbara Nüsse, Ivar Wafaei. 95 Min. Ab 29.5. ★★★★★ On Swift Horses Kalifornien, in den Fünfzigerjahren. Muriel, frisch verheiratet (Daisy Edgar-Jones), schreibt heimlich ihrem Schwager Julius (fantastisch: Jacob Elordi). Sie schwärmt von San Diego, das für sie nach der Abgeschiedenheit in Kansas eine neue, sonnen- durchflutete Welt ungeahnter Möglichkeiten bedeuten würde. Vom ersten Moment an fühlen die beiden eine tiefe, bisher nie gekannte Verbundenheit – platonische Liebe voller Sehnsucht. Julius ist schwul, seine eigentliche Leidenschaft in Las Vegas gilt Poker und Glücksspiel. Er beherrscht die Strategien des Be- trügens – auch privat. Der attraktive Rebell lässt sich anheuern, um andere Falschspieler zu entlarven, während er selbst vom großen Reichtum träumt. Lee (Will Poulter) scheint das Gegen- teil seines Bruders zu sein: zuverlässig und gutherzig. Sein ein- ziges Ziel nach der Rückkehr aus dem Koreakrieg: die Familie zusammenzubringen, ein Heim zu schaffen. Muriel dagegen be- spitzelt während ihrer Arbeit imDiner gut informierte Gäste und erfährt so, auf welche Pferde sie beimRennen setzen muss. Das Geld aus den Wetten, Symbol der Selbstverwirklichung, wird sorgsam vor dem Ehemann versteckt. Der ahnt nichts davon, genauso wenig wie von ihrer lesbischen Beziehung zur Nach barin. Muriel versteht sich darauf, die gutbürgerliche Fassade zu wahren. Doch irgendwann stoßen die Protagonisten an ihre Grenzen, müssen sich ihren Gefühlen stellen. „On Swift Horses“ basiert auf dem gleichnamigen Roman von Shannon Pufahl, das Drehbuch schrieb Bryce Kass. Serienregisseur Daniel Minahan („Halston“, „Fellow Travelers“) preist sein Kinodebüt als Neu- interpretation des amerikanischen Traums aus queerer Per spektive an. Gelungen ist das Konstrukt der parallelen Schil derung zweier gegensätzlicher Lebensentwürfe, die trotz räum- licher Distanz eng miteinander verknüpft sind wie eine Schick- salsgemeinschaft. Minahan versucht, verschiedene Genres zu durchbrechen und in den Alltag seiner Helden einzubauen. Was den Figuren der sich überschneidenden Lovestorys aber völlig fehlt, ist jene verwirrende Intensität der Gefühle wie in Luca Guadagninos Film „Call Me By Your Name“ oder Paul Schraders „The Card Counter“. Die mit viel Retro-Charme fotografierte Suche nach Identität endet ohne Angst vor Einsamkeit fern von glitzernden Casinos und Pferderennbahn. Text: Anna Grillet Regie: Daniel Minahan. Mit: Daisy Edgar-Jones, Jacob Elordi, Will Poulter, Diego Calva, Sasha Calle. 117 Min. Ab 29.5. ★★★★★ Foto: Salzgeber Foto: Leonine 24 FILM Saint-Exupéry – Die Geschichte vor dem kleinen Prinzen Mit seiner Schilderung der makabren Odyssee des Leichnams von Eva Perón im Film „Eva Doesn’t Sleep“ bewies der franzö- sisch-argentinische Autorenfilmer Pablo Agüero bereits 2015 virtuoses Talent für den Mix aus Fakten und Fiktion, Spekula- tion und Recherche. Er bleibt dem Stilprinzip treu, bezeichnet sein neues Leinwandepos als Hommage an Antoine Saint-Exu- pérys „Der Kleine Prinz“. Agüero konzentriert sich dabei auf eine Woche, die das Leben des Fliegers und Schriftstellers entschei- dend prägte. Argentinien, 1930. Saint-Ex (berührend: Louis Gar- rel), Pilot bei der Companie Aéropostale, bewundert seinen Freund und Kollegen, den legendären Henri Guillaumet (Vincent Cassel). Für die Luftpostfracht riskieren beide Männer immer wieder ihr Leben. Der Konkurrenzkampf gegen die rentablere Eisenbahn ist unerbittlich, die Schließung der Zweigstelle droht. Bei seiner 92. Überquerung der Anden stürzt Guillaumet in den unzugänglichen vereisten Bergen ab. Wo, weiß keiner. Saint-Ex ist überzeugt, der Freund lebt noch; weiß, er muss ihn retten, so wie es der Freund an seiner Stelle getan hätte. Die Suche nach demVermissten übersteigt bei Weitem seine Fähigkeiten als Pilot, doch es ist die Fantasie des Künstlers, seine visionäre Kreativität, die ihn wahnwitzig klingende Lösungen finden lässt, wie auf den warmen Luftströmen zu fliegen wie ein Kondor. Seine Begegnungen und Entdeckungen, die er während dieser Tage macht, inspirierten ihn zehn Jahre später zu der Erzählung vom kleinen Prinzen. Agüero wuchs in extremer Armut auf, Exu- pérys märchenhaft-philosophisches Plädoyer für Menschlich- keit und Freundschaft gab ihmHalt, ermutigte ihn als Kind, sich sein eigenes imaginäres Universum zu schaffen. Der symbolisch etwas überfrachtete Film beeindruckt durch seine eigenwillige visuelle Kraft. Kamerafrau Claire Mathon („Porträt einer jungen Frau in Flammen“) kreiert kunstvolle Wolkenwelten. Ihre rauen, majestätischen Gebirgszüge und monochromen Schneestür- me erinnern an japanische Tuschezeichnungen, raffiniert und zugleich puristisch. Fantasie und Realität überschneiden sich, wenn die Landebahn zumNachtclub mutiert, ein Zug im Tango- Rhythmus rattert, Ironie auf Melancholie trifft. Text: Anna Grillet Regie: Pablo Agüero. Mit: Louis Garrel, Vincent Cassel, Diane Kruger. 98 Min. Ab 29.5. ★★★★★ Foto: Chey reservix.de dein ticketportal Tickets unter reservix.de Hotline 0761 888499 99 Alle Angaben ohne Gewähr 17.11.25 Barclays Arena Hamburg 02.11.25 Congress Center | Hamburg LucaVasta 10.09.25 Nochtspeicher Hamburg Blue Port Lichterfahrt Cruise Days 13.09.25 Cap San Diego | Hamburg Die frivolste Kaffeefahrt Hamburgs 08.06.–31.08.25 St. Pauli Landungsbrücken Hamburg HAMBURG 25
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