hamburg:pur Juni 2025
THEATER Wir sind natürlich keine Tageszeitung, aber das aktuelle Geschehen vollkommen ignorieren können wir auch nicht. Wichtig scheint mir, Hal tung zu zeigen, und das haben wir, glaube ich, getan. Aber wenn ich jetzt weitermachen sollte, würde mir eine Antwort darauf schwerfallen. Würde heute gewählt, bekämen die Rechtsra dikalen die meisten Stimmen. Wie geht man damit um? In unserer eigenen Kulturblase kön nen wir unsere Seele kräftigen, aber eine echte Auseinandersetzung findet dadurch nicht statt. Vor zwei Jahren habe ich überlegt, auf der Bühne das Gespräch mit rechtsradikalen oder sehr rechts denkenden Menschen zu su chen, schlicht und ergreifend, um diese Posi tionen jenseits aller Parolen besser zu verste hen. Ich glaube, da haben wir in der Kultur noch nicht die richtigen Wege gefunden – weder dis kursiv noch innerhalb der künstlerischen Pro jekte. Jetzt einfach wieder Brecht und Horváth zu spielen, kann nicht die Antwort sein. Liegt das Problem auch in einer veränderten Gesprächskultur? Dass Menschen sich im- mer weniger von Argumenten als von Emo- tionen leiten lassen? Wir haben in der Tat noch nicht begriffen, dass sich durch KI und Social Media nicht nur die Kommunikationsformen, sondern auch die Inhalte verändert haben. Darin sehe ich zu mindest eine Teilbegründung für das, was sich gerade gesellschaftlich ereignet. In den letzten 20 Jahren beobachten wir im Theater eine starke Hinwendung zu zeitge- nössischen Stoffen. Woran liegt das? Es gibt ein großes Bedürfnis, von der eigenen Gegenwart zu erzählen, wohingegen der so genannte bildungsbürgerliche Kanon – Stücke, die man unbedingt gesehen haben muss – eine immer kleinere Rolle spielt. Da die Autoren aber kaum noch dramatische Bühnentexte schrei ben, bedienen wir uns oft bei Romanstoffen. Soll man über die Verdrängung der Klassiker aus den Spielplänen ein Lamento anstim- men? Sie wurden schließlich nicht ohne Grund über Jahrhunderte tradiert. Ich würde das etwas allgemeiner formulieren: In demMoment, wo eine Gesellschaft ihre ei gene Historizität nicht mehr reflektiert – egal ob in der bildenden Kunst, in der Musik oder im Theater –, verliert sie ihr emotionales und intellektuelles Gedächtnis. Und das kann nicht gut sein. Haben Sie während Ihrer Intendanz auch Feh- ler gemacht? Welche Niederlagen mussten Sie einstecken? Vielleicht hätte ich noch etwas frecher sein sollen. Hamburg ist eine wohlsortierte Gesell schaft, die das wohl ausgehalten hätte. Zwei große Niederlagen gibt es auf jeden Fall. Beide haben mit Stadtentwicklungspolitik zu tun. Zum einen wollte ich mithilfe von Olaf Scholz das Gelände in der Gaußstraße zum Kultur zentrumAltona entwickeln. Dass das geschei tert ist, finde ich schlimm. Zum anderen woll te ich die Thalia-Kantine als Begegnungsort von Publikum und Künstlern in den Gerhart- Hauptmann-Platz hineinbauen und den Platz begrünend umgestalten lassen. Auch das hat nicht geklappt. Das Thalia Theater ist sehr international auf- gestellt. Warum? In einer immer internationaler werdenden Welt ist mir der Perspektivwechsel sehr wichtig. Wie kann der am Theater gelingen, das durch die Sprache ja extrem nationalstaatlich gebunden ist? Einerseits haben wir imRahmen der „Les singtage“ internationale Produktionen einge laden, andererseits sind wir mit unseren eige nen Inszenierungen viel auf Reisen gegangen. Wir waren vielleicht das im internationalen Raum aktivste Theater. Und es ist wirklich ein Unterschied, ob man in Deutschland oder in China, Sydney oder Namibia spielt. Man macht andere Erlebnisse und Relativierungserfah rungen und nimmt sich dadurch vielleicht nicht mehr ganz so wichtig. Nicht zu vergessen die internationalen Ko- produktionen mit gemischten Ensembles… In Luk Percevals Stück zum Zweiten Weltkrieg „Front“ oder demKolonialismus-Stück „Here roland“ standen die Nachfahren von Tätern und Opern gemeinsam auf der Bühne. Diese Leis tung kann man gar nicht überschätzen, weil mir die Utopie, die über das rein Symbolische hinausgeht, extrem wichtig ist. Und als Kirill Serebrennikov plötzlich mit seinen zehn rus sischen Künstlerinnen und Künstlern hier auf taucht und sagt: Wir mussten abhauen, können wir bei euch unterschlüpfen … Das erinnert einen fast an den Zweiten Weltkrieg, wo Zürich die flüchtenden Künstler aus Deutschland auf genommen hat. Mit diesem Universalismus, dieser Liberalität und Toleranz wird das Thea ter sehr politisch. Bitter ist, dass jetzt, wo ich aufhöre, die gegenteiligen Strömungen gesiegt haben. Als Sie 2017 die Reihe „Plattform Europa – Thalia international“ ins Leben gerufen ha- ben, taten Sie das mit denWorten: „Wir dür- fen nicht aufhören, den europäischen Traum zu träumen.“ Lässt Sie dieser Traum acht Jahre später noch gut schlafen? Das ist gerade ein Albtraum. Ob man in Argen tinien, Chemnitz, den USA oder Italien lebt: Der Zeitgeist ist weltweit rechts, Nationalismus ist eine globale Bewegung! Die stärkste Partei in Deutschland wäre zurzeit eine rechtsradikale, in einem Land also, das für 60 Millionen Tote verantwortlich ist, in dem es aber möglich ist, den Nationalsozialismus ungestraft als „Flie genschiss“ zu bezeichnen. Wir sollten uns schämen. Von der Türkei über Ungarn bis zu Israel oder den USA: überall aus freien Wahlen hervorgegangene populistische Autokraten. Trotz völlig verschiedener gesellschaftlicher und kultureller Hintergründe! Das ist schwer zu verstehen. Aber wir müssen trotzdemwei termachen mit Europa. Vielleicht hilft uns Trump, zur Besinnung zu kommen und uns zu verbünden. Etwas anderes weiß ich nicht. Zum letzten Mal sind im Juni zu sehen: „Im- mer noch Sturm“, „Faust I + II“, „Moby Dick“ und „Blue Skies“. Wenn Sie in diesen vier In- szenierungen ein hervorstechendes Thalia- Theater-Charakteristikum aufspüren müss- ten, welches wäre das? Das Entscheidende ist, dass es über all die Jahre dieses Ensemble gab, das gespielt hat wie auf einem Fußballplatz: Wenn einer nach vorne stürmt, muss er sich nicht einmal um drehen, um zu wissen, dass die Flanke kommt. Man spielt mit traumwandlerischer Sicherheit. Das hat einerseits damit zu tun, dass sich alle so gut kennen, aber auch damit, dass es uns gelungen ist, Schachspieler zu versammeln, die die Utopie gemeinsamer künstlerischer Arbeit leben. Natürlich streiten wir und haben Konflikte. Aber die Kraft, dann zusammen wei terzumachen, ist größer als die Fliehkraft. Interview: Sören Ingwersen Thalia Theater: „Faust I + II“, 7., 9.6.; „Immer noch Sturm“, 8.6.; „Moby Dick“, 24., 25.6.; „Blue Skies“, 28., 30.6. 18 Foto: Michael Petersohn THEATER Kröten in Not Familienvater auf dem Egotrip Peter sagt: „Mir sind drei Dinge wichtig – meine Kinder, meine Frau und meine Mutter.“ Selma sagt: „Dir sind drei Dinge wichtig – du, du und du.“ Wie verzerrt sein Selbstbild und wie zu- treffend ihr Bild von ihm ist, wird in der Urauf- führung von René Freunds Familienstück „Krö- ten in Not“ in der Komödie Winterhuder Fähr- haus schnell klar. Peter (etwas zu überdreht: René Steinke) kreist um sich selbst und nimmt weder seine Frau Selma (spielt souverän und charmant: Anna Schäfer), die Job, Kinder und Haushalt wuppt, noch seine beiden Spröss- linge wirklich wahr. Dabei haben es die Teen- ager echt schwer: Tochter Paula (glaubwürdig als verpeilte Aktivistin: Nica Heru) hat sich den Klimaklebern der Letzten Generation ange- schlossen und läuft nun mit einem Asphalt- klotz an der Hand herum, der nicht mehr ab- geht. Derweil lebt Sohn Albert einsam im Keller und pflegt seine Hanfplantage. Albert, der von Cem Yeginer als tragische, aber auch witzige, verletzte, dennoch freundliche Figur interpre- tiert wird, führt als Erzähler in das Stück ein und ergreift auch zwischendurch immer wie- der das Wort, um etwas zu erklären oder die handelnden Charaktere zu beschreiben. Durch diesen Kniff (Regie: Sebastian Goder) wirkt das Geschehen auf der Bühne wie eine Versuchs- anordnung: Wie kam die Rollenverteilung in- nerhalb der Familie zustande? Was muss pas- sieren, damit Peter auf seinem Egotrip etwas merkt? Und was hält den verkorksten Clan eigentlich zusammen? Ein wichtiges Bindeglied ist eine Waldhütte voller Erinnerungen. Doch gerade die hat der Familienvater heimlich ver- scherbelt und das Geld am Finanzamt vorbei in den Safe seiner alten Mutter verschoben. Als Oma Hedwig (urkomisch als vermeintlich tüdelige Greisin: Herma Koehn) just dieses Schwarzgeld nun einer Betrügerbande über- lässt, kommt alles heraus und Peter muss sich dem Familiengericht stellen. Text: Julika Pohle Komödie Winterhuder Fährhaus, 1., 3.–8., 10.–15.6. Foto: Sinje Hasheider 1.6. – 6.7.2025 TIET IS GELD JETZT ODER NIE | KOMÖDIE VON LARS BÜCHEL & RUTH TOMA
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