hamburg:pur Juni 2024

Foto: Grandfilm/Victor Juca Foto: Arsenal Filmverleih/Kris de Witte FILM SleepWith Your Eyes Open Basierend auf eigenen Erfahrungen ist Regisseurin Nele Wohlatz („The Future Perfect“) mit „Sleep With Your Eyes Open“ ein poe- tischer Film über ein häufig verklärtes Thema gelungen: das Le- ben im Ausland. Bei der gebürtigen Hannoveranerin stehen phi- losophische Aspekte imVordergrund. Wer oder was bleibt in einer neuen Stadt, in einem fremden Land? Macht uns ein Ortswechsel zu anderen Menschen? Und welche Spuren hinterlassen wir, wenn wir wieder gehen? Diese Fragen stellt sich auch Xiaoxin (Chen Xiao Xin) in der bra- silianischen Küstenstadt Recife. Aus Argentinien kommt sie dorthin, um ihrer Tante zu helfen, die einen erfolgreichen Import- handel betreibt. Hier wohnt sie zusammen mit chinesischen Ver- tragsarbeitenden im 18. Stock eines schicken Hochhauses mit Meerblick. Einer von ihnen ist Fu Ang (Wang Shin-Hong), dem Xiaoxin ihre Postkarten hinterlässt, worauf sie all ihre Eindrücke und Gedanken niedergeschrieben hat. Durch Zufall gelangen diese Notizen in die Hände von Kai (Liao Kai Ro), die mit gebrochenem Herzen von Taiwan nach Recife gereist ist. Obwohl sie Xiaoxin nie begegnet ist, findet sie sich in den Aufzeichnungen wieder. Sie zeigen unter anderem die Krux einer globalisierten Welt, in der es einfacher geworden ist, zu reisen und zu Reichtum zu kommen, aber auch Entfremdung und Entwurzelung zunehmen. Mehrsprachigkeit ist dabei nicht nur Teil der Handlung, sondern genauso Stilmittel, um diesen Gegensatz hervorzuheben: Xiaoxin spricht mit den Vertragsarbeitenden Mandarin, schreibt ihre No- tizen auf Spanisch, versteht aber kein Portugiesisch. Das führt teilweise zu subtil lustigen Missverständnissen, die manchmal an Sofia Coppolas „Lost in Translation“ erinnern. Eine weitere Pa- rallele: In beiden Filmen liegen die Hauptfiguren nachts oft schlaf- los – mit offenen Augen – wach. Dagegen erscheinen bei „Sleep With Your Eyes Open“ viele Szenen am Tag dank der starken Bild- gestaltung von Roman Kasseroller beinahe traumartig weich­ gezeichnet. Auch Xiaoxins Auftreten wirkt irgendwann nur noch wie ein Traum, denn die Figur verschwindet einfach aus der Hand- lung – ein Twist der Regisseurin, um klassische Erzählstrukturen zu hinterfragen. (sis) AB 13. JUNI BRA/ARG/TAI/D 2024; 97 Min.; R: Nele Wohlatz; D: Chen Xiao Xin, Wang Shin-Hong, Liao Kai Ro ★★★★★ Ein Schweigen Das Haus des prominenten Rechtsanwalts François Schaar (Da- niel Auteuil) wird wegen eines aufsehenerregenden Falls um einen pädophilen Straftäter von der Presse belagert. Doch die recht- schaffene, kämpferische Art, in der sich François als Verteidiger der Opfer nach außen hin inszeniert, verbirgt Abgründe. Das Ver- hältnis zwischen ihm, seiner Frau Astrid (Emmanuelle Devos) und Sohn Raphaël wirkt distanziert und merkwürdig. Es wird bald klar, dass ein Geheimnis die Atmosphäre vergiftet, über das einzelne Familienmitglieder nicht länger schweigen wollen … Regisseur Joachim Lafosse nimmt in seinem neuen Film, der auf einem wahren Fall beruht, weder die Seite von Opfern noch die der Ermittler ein, sondern seziert den Zustand, der systemati- schen Missbrauch ermöglicht: das titelgebende Schweigen. Da- bei folgt er insbesondere dem Alltag Astrids, einer liebenden, fürsorglichen Mutter, die im lähmenden Zustand der Scham um die Neigungen ihres Mannes gefangen zu sein scheint. In diesem Vakuum liegt das Beklemmende, das Unheilvolle im Film „Ein Schweigen“, der zwar früh verrät, dass er ein tragisches Ende nehmen wird, aber vorher den Prozess des Verdrängens in seiner Konsequenz durchspielt: Jedes Aufblitzen der Wahrheit wird im Keim erstickt. Doch das Moment der Irritation, das in den anfangs schwer zu lesenden familiären Beziehungen ruht, verliert imVerlauf an Kraft: Der Film gefällt sich darin, seine Figuren und ihre Abwehrmecha- nismen immer wieder in langen, sehr nahen Einstellungen zu stu- dieren. Das gelingt nicht zur Gänze, der tiefere Blick in ihr Innen- leben bleibt aus. Als ein rasch eingeführter Ermittlerstrang dann zügig zum anfangs angedeuteten Klimax führt, fühlt man sich als Zuschauer so wie die Journalisten an der Pforte zum Haus der Schaars: Man bleibt Zaungast. „Ein Schweigen“ nimmt zwar eine interessante Perspektive in der Familiendynamik um einen Missbrauchsfall ein und schafft damit fein beobachtete Momente des Verdrängens, kommt aber nicht über seine Skizzenhaftigkeit hinaus. (rk) AB 13. JUNI BEL/F/LUX 2023; 99 Min.; R: Joachim Lafosse; D: Daniel Auteuil, Emmanuelle Devos, Jeanne Cherhal ★★★★★ 24 25 Foto: Kyle Kaplan/Focus Features Foto: ilmkinotext/Gianni Fiorito FILM The Bikeriders Das Aufheulen der Motoren gleicht einer Kampfansage an die bürgerliche Gesellschaft: Für Benny (grandios: Austin Butler), den attraktiven unzähmbaren Rebellen der Chicagoer Peripherie, dreht sich das Leben Mitte der Sechzigerjahre um seine Leidenschaft für den Motorradclub der „Vandals“, gegründet vom charisma­ tischen Johnny (umwerfend: Tom Hardy) und um die Liebe zu Kathy (Jodie Comer). Furchtlosigkeit bedeutet für Benny Freiheit, er lässt keinen Kampf aus – ob in der Bar oder auf der Straße, je aussichtsloser desto besser, Todessehnsucht schwingt immer mit. Die „Vandals“, einst Anlaufstelle für Unangepasste, entwi­ ckeln sich von einer Ersatzfamilie zum Verbrechersyndikat samt Drogen, Prostitution und Glücksspiel. Benny muss sich entschei­ den, wem seine Loyalität gilt: Kathy oder Johnny, der ihn zum Nachfolger ernennen will. „The Bikeriders“ ist inspiriert von dem gleichnamigen, 1969 er­ schienenen Bildband des Fotografen und Dokumentarfilmers Danny Lyon über den Chicago Outlaw Motorcycle Club. Er war selbst Mitglied, übernahm deren Lebensstil, seine Schwarz-Weiß- Aufnahmen besitzen jene besondere spontane Authentizität, die auch dieses Drama prägt. US-Regisseur Jeff Nichols („Take Shelter“) romantisiert weder die Motorradgangs noch deren Pro­ tagonisten, zeigt die Gewalt schlicht als Teil des Selbstverständ­ nisses dieser Männer, ihre Art zu träumen. Lyon (gespielt von Mike Faist) interviewt im FilmKathy – und ähn­ lich wie Karen in Martin Scorseses „GoodFellas“ oder Kay in Fran­ cis Ford Coppolas „The Godfather“ gibt sie, die Außenseiterin, dem Zuschauer Einblicke in den inneren Zirkel der Gang und in ihre eigenen widersprüchlichen Gefühle. Nichols kreiert bewusst Parallelen, um so die Gegensätze zu betonen. „The Bikeriders“ fühlt sich an wie ein altmodischer Western mit der Spannung eines Gangsterepos. Ästhetisch virtuos komponierte Sequenzen als Spiegel eines sich drastisch verändernden Amerikas. Faszinie­ rend, grotesk und abstoßend gleichermaßen. Mittelpunkt bleibt die fatale Dreiecksbeziehung, der Kampf um Liebe und Macht. (ag) AB 20. JUNI USA 2023; 116 Min.; R: Jeff Nichols; D: Austin Butler, Jodie Comer, Tom Hardy ★★★★★ Was uns hält Es hat ein wenig gedauert, bis der aus 2020 stammende italieni­ sche Film „Was uns hält“ von Regisseur Daniele Luchetti („Mein Bruder ist ein Einzelkind“) den Weg in die deutschen Kinos fand. Erst der Kauf der TV-Rechte seitens des WDR sicherte die Finan­ zierung der Synchronisation. Dabei handelt es sich um den Er­ öffnungsfilm der 77. Filmfestspiele von Venedig. Das Familiendrama spielt imNeapel der 1980er-Jahre. Aldo (Luigi Lo Cascio), ein über Literatur dozierender Radiomoderator, hat gerade die gemeinsamen Kinder Anna und Sandro ins Bett ge­ bracht, als er seiner Frau Vanda (Alba Rohrwacher) in der Küche eine Affäre gesteht. Vanda weiß nicht, wie sie reagieren soll, schmeißt ihn aus der Wohnung und verliert den Boden unter den Füßen. Was bedeutet das für sie und die Kinder? Liebt er seine Neue, Lidia (Linda Caridi), überhaupt? Gibt es noch eine Zukunft für ihre Ehe? Zeitsprung: Etwa 30 Jahre später sind Vanda und Aldo noch immer zusammen – doch nicht einmal sie selbst schei­ nen zu wissen, warum. „Was uns hält“ basiert auf den Roman „Auf immer verbunden“ von Domenico Starnone. Ebenso wie der Roman zeigt auch Lu­ chettis Film auf, welche geheimen, teils unerklärlichen Kräfte die Bindung einer Familie ausmachen – imGuten wie imSchlechten. Im Film wird dies in einer Szene geschickt illustriert, in der Vater und Sohn darauf aufmerksam werden, dass sie ihre Schuhe auf gleiche, ungewöhnliche Art und Weise binden. Die schauspiele­ rischen Leistungen sind vollauf überzeugend – insbesondere die von Alba Rohrwacher und Luigi Lo Cascio. Auch die Kameraarbeit von Ivan Casalgrandi mit der mal warmen, mal kalten Ausleuch­ tung der Szenen überzeugt. Der gelegentliche Einsatz der karne­ valistischen Eingangsmusik und die zeitlichen Sprünge in der Handlung fallen stark auf, wenngleich beides den Filmgenuss ins­ gesamt nicht trübt. Das Ende wiederum überrascht – und könnte glatt ein eigener Kurzfilm sein. Es bleibt eine Erkenntnis: Jedes Mitglied hat so seine eigene Theorie über familiäres Glück und Unglück, über Zusammenhalt und Trennung. (mag) AB 20. JUNI IT 2020; 100 Min.; R: Daniele Luchetti; D: Alba Rohrwacher, Luigi Lo Cascio, Giovanna Mezzogiorno ★★★★★

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