hamburg:pur Juni 2024

THEATER Anne Lenk: Bei modernen Texten habe ich oft das Gefühl, sie drehen sich zu sehr ummeinen eigenen Alltag. Ich suche lieber imAbstrakten nach Dingen, die mir nahe sind. Außerdem tritt in einer Sprache, die eine gewisse Diskurshöhe und Zugespitztheit hat, bei der man das Ge- formte und Gemachte deutlicher wahrnimmt, das Künstlerische mehr zutage. Maja, fühlst du dich auch in der alten Sprache wohler? Maja Schöne: Beides hat seinen Reiz. Ich habe gerade die Eva in „Schande“ nach einemDreh- buch von Ingmar Bergman gespielt. Dort wurde eher Alltagssprache gesprochen. Sich danach mit Lessing zu beschäftigen, finde ich sehr schön, weil man merkt, wie ungeheuer präzise man am Text und seinem Rhythmus arbeiten muss – er hat eine hohe Musikalität und diese Feinheiten in der Sprache gemeinsam zu er- kunden, macht große Freude. Ich mag es, mich an dieser vorgegebenen, starken Form zu rei- ben und abzuarbeiten. Lenk: Mein Eindruck ist gerade, dass jedes Luftholen und jeder Blick bei Lessing präzise gesetzt werden müssen, weil alles wahnsinnig schnell passiert. Die Figuren kommunizieren schnell, verstehen schnell, wechseln schnell ihren Kurs, damit müssen wir umgehen. Das Stück erzählt von einem Prinzen, der buchstäblich über Leichen geht, um die bürgerliche Emilia für sich zu gewinnen: Er lässt ihren angehenden Ehemann ermorden. Behaltet ihr die übliche Lesart bei, bei der es umdas Aufeinanderprallen von feudaler Will- kürherrschaft und aufgeklärter bürgerlicher Moral geht? Schöne: In „Emilia Galotti“ werden viele Themen aufgefächert: die Institution der Ehe, die Sozialisation von Mädchen in einer immer noch patriarchalen Gesellschaft, die Frau als Projektionsfläche männlicher Rollenzuschrei- bungen. Lenk: Zunächst einmal gibt es aber diesen Krimi, der auch sehr komödiantisch ist, weil in der Handlung vieles anders läuft, als die Figuren es planen oder erwarten und dadurch ein totales Durcheinander entsteht. Der Prinz und sein Berater Marinelli sind nicht dumm, aber sie geben sich auch keine Mühe. Sie erfinden aus demStegreif haarsträubende Lügen, ohne Konsequenzen zu fürchten. Das ist wirklich zum Lachen. Schöne: Ich war beim Lesen von dieser Schlichtheit, Skrupellosigkeit und Willkür der Männer wirklich überrascht, wobei einem das Lachen sofort wieder im Hals stecken bleibt. Auch weil es bei Lessing diesen Temperatur- unterschied zwischen der eiskalt geführten Sprache und der Hitze der Gefühlswelt gibt. Den finde ich total faszinierend. Lenk: Ich denke da an ein gegenwärtiges popu- listisches Politikszenario. Man sagt ja, dass wir gerade ein neues Zeitalter der Aufklärung durchleben. Wir entdecken viel, überarbeiten unsere Vergangenheit, versuchen aufzuräu- men. Gleichzeitig gibt es eine Gegenbewegung: den Populismus, der Dinge verschleiern möchte und die Mechanismen der Sprache unterläuft, indem seit Langem gültige Gesetzmäßigkeiten nicht mehr eingehalten werden. Genau das passiert in „Emilia Galotti“. Am Ende bittet Emilia ihren eigenen Vater, sie zu erstechen, damit sie dem Zugriff des Prinzen entzogen wird und keine Schande über die Familie bringt. Kann man diesen Opfermord heute noch so stehen lassen? Lenk: Das Stück spielt am Tag von Emilias ge- planter Hochzeit. Ich lese aus dem Text aber heraus, dass Emilia weniger erfreut ist über ihren Bräutigam als ihre Eltern. Andererseits ist sie sehr aufgeregt, als sie den Prinzen trifft und merkt, dass sie ein Begehren entwickelt, das mit den gesellschaftlichen Erwartungen nicht vereinbar ist. So kommt sie am Ende dazu, ihren Vater zu bitten, ihr das Leben zu nehmen und sie von der Qual zu befreien, sie selbst zu sein. Der Femizid ist ein aktuelles Thema. Fast jeden dritten Tag wird eine Frau in Deutsch- land von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet … Lenk: Interessanterweise werden gerade in Stücken männlicher Autoren häufig unschul- dige Frauen getötet. Das scheint ein wahnsin- nig spannendes Motiv zu sein, das dann ent- sprechend stilisiert wird. Das weiße Kleid mit rotemBlut ist dafür ein in unserer Gesellschaft fest verankertes Bild. Wer sich von diesem ästhetisierten Stereotyp anrühren lässt, sollte aber auch fragen, warum diese Frau eigentlich sterben musste. Patriarchale Strukturen pflanzen sich in sol- chen Bildern unmerklich fort? Lenk: Ich glaube, die Problematiken von Unter- drückung sind immer die gleichen, sie mani- festieren sich nur unterschiedlich. Damals hat die Frau ein Korsett und hochhackige Schuhe getragen, heute wird beispielsweise operiert. Beides bringt viele körperliche Nachteile mit sich. Das ist wie ein Teufel, der in immer neuen Kostümen auftaucht. Erst denkt man: Ach, wie nett. Dann merkt man, dass es schon wieder eine Falle ist. Maja, du spielst nicht nur die Emilia, sondern auch die Gräfin Orsina, die vom Prinzen ab- servierte Geliebte, die sich an ihm rächt, in- dem sie ihn als Drahtzieher des Mordes an Emilias zukünftigen Ehemann verrät. Wie fühlst du dich mit dieser Doppelbesetzung? Schöne: Ich finde es sehr reizvoll, die Trennung dieser beiden erst einmal sehr unterschiedlich wahrgenommenen Figuren aufzuheben. Auch ich musste mich zunächst von stereotypen Lesarten frei machen; und dann sieht man schnell, wie widersprüchlich und komplex­ beide sind. Das merke ich besonders bei Emilia. Nach außen hin wirkt sie sehr passiv, aber in ihrem Innern gibt es eine hohe Dynamik und ein Tempo, das man erst beimSpiel richtig ent- deckt. Lenk: Ich wollte mit der Doppelbesetzung die Trennung zwischen der Hübschen und der Hässlichen, der Unschuldigen und der Schul- digen auflösen. Diese Trennung wird am An- fang nur durch die Männer – den Maler Conti und den Prinzen – definiert, als sie die Porträt- bilder von Emilia und Orsina kommentieren. Beim Lesen hat mich unglaublich geärgert, dass man darauf angewiesen ist zu glauben, was die Männer sagen. Interview: Sören Ingwersen 1. JUNI (PREMIERE), 4., 8., 9., 28. JUNI, 2. JULI; Thalia Theater 18 Foto: Ivan-Alexander Kjutev & David Diwiak 3 FRAGEN AN… Ksenia Ravvina, Alexandar Hadjiev, „Hauptsache Frei“ hat sich in den vergangenen Jahren einen guten Namen gemacht. Welches Signal soll vom geänderten Titel „Fringify – Independent Arts Fes- tival“ ausgehen? Ja, „Hauptsache Frei“ wird zu „Fringify“! Mit der Namensänderung bre- chen wir zu einem neuen Kapitel in der Entwicklung des Festivals auf und betonen unsere Vision, die Vielfalt, Diversität und Lebendigkeit der Freien Szene in Hamburg zu feiern. „Fringe“ steht für Randbereiche und verweist auf unabhängige, experimentelle und alternative Kunst- und Theaterproduktionen, die außerhalb des Mainstreams stattfinden. „Fringify“ unterstreicht dieses Engagement. Ksenia Ravvina und Alexandar Hadjiev Künstlerische Leitung des Independent Arts Festival „Fringify“ Wird das zehnjährige Festival-Jubiläum in einer besonderen Weise gefeiert? Das fünftägige Festival widmet jedem Tag ein bestimmtes Thema. Am vierten Tag, dem 8. Juni, feiern wir die Kraft der (heterogenen) Gemein- schaft und das 10. Jubiläum. Herausragende Performances von Fa- biola Kuonen, Ilja Mirsky, Show&Tell und Daniel Dominguez Teruel wer- den gezeigt. Eine Diskussion mit prominenten Gästen, wie dem Ham- burger Kultursenator Dr. Carsten Brosda, beleuchtet die Zukunft der Freien Darstellenden Künste in Hamburg. Bei allem Grund zu feiern: Die wachsende Szene freischaffender Künstler*innen sieht sich mit finanziellen Herausforderungen konfrontiert, die den Fortbestand der Hamburger Szene gefährden! Abends laden wir zur Feier mit Torte, Drinks und Musik ein. Welche Schwerpunkte setzt ihr als neue künstlerische Leitung? Das Festival wird nicht nur als künstlerisches, sondern auch als poli- tisches Betätigungsfeld betont. Zukünftige Ausgaben werden verstärkt strukturelle Diskriminierung thematisieren und die Teilhabe von Künst- ler*innen mit Flucht- und Migrationsgeschichte fördern. Zum ersten Mal wird auch ein fester Standort für die Freie Szene eröffnet: der „Pa- villon der Freien Künste“ in der Rentzelstraße. Hier soll nicht nur ein Ort der Begegnung und des Austauschs entstehen, sondern auch das Herzstück des Festivals, das die Vielfalt und Kreativität unserer Szene das ganze Jahr über zelebriert. Interview: Dagmar Ellen Fischer FRINGIFY – INDEPENDENT ARTS FESTIVAL, 5.–9.JUNI; fringify.hamburg Foto: Sinje Hasheider SOMMERFEST KOMÖDIE MIT MUSIK NACH DEM ROMAN VON FRANK GOOSEN OP PLATTDÜÜTSCH & HOCHDEUTSCH 26.5. – 30.6.2024

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