hamburg:pur Juni 2023
THEATER Foto: G2 Baraniak reine Frauensache waren. Im zweiten Teil befassen wir uns mit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wo dieWissenschaft mit ihrer wiederum männlichen Perspektive die Gynä- kologie für sich entdeckt. Mit dem Bestreben, die Geburtenrate zu erhöhen, wird Fortpflan- zung ein staatliches Konstrukt. Im dritten Teil befinden wir uns dann im Hier und Heute. Noch einmal zurück zumMittelalter: Warum hat die Kirche die Hebammen so gefürchtet und die Kontrolle über das Geburtswesen an sich gerissen? Das hängt mit der Sünde Evas zusammen. Zur Strafe befahl Gott: „Unter Schmerzen sollst du gebären.“ Die Hebammen handelten also gegen den Willen Gottes, wenn sie schmerz- stillende Medikamente verabreichten, und setzten sich für eine aktive Geburtenregelung ein. So haben die meisten Frauen ihre fünf bis sechs Kinder durchbekommen. Die extrem ho- hen Geburtenraten verbunden mit hoher Kin- dersterblichkeit ergaben sich erst später durch den Eingriff der Kirche. Die verwarf das ganze alte Wissen, das sich über Jahrhunderte be- währt hatte – zum Beispiel das Abkochen der Instrumente vor der Geburt –, und schrieb ihre eigene Hebammenordnung, die nur auf theo- retischen Vorstellungen beruhte. Worum geht es im zweiten Teil der Trilogie? Dort befassen wir uns mit den sogenannten Accouchierhäusern. Mit ihnen hat die männ- liche Wissenschaft sich ein System aufgebaut, ummit Übungen an schwangeren Patientinnen neue Ärzte und Hebammen gemäß ihrer Lehr- meinung auszubilden. Frauen, die sich in einer Notlage befanden, weil sie ein uneheliches Kind erwarteten und die damit verbundene Forni- kationsstrafe nicht bezahlen konnten, wurden gezwungen, ihre Rechte am eigenen Körper aufzugeben und öffentlich zu gebären. In den Geburtshäusern wurde die Grundlage unserer heutigen Gynäkologie gelegt, die die Frauen nicht empathisch begleitet, sondern den Ge- burtsvorgang technisch zu optimieren ver- sucht. Im dritten Teil beschäftigt ihr euch mit der Gegenwart. Was läuft denn heute noch falsch bei der Geburt? Wir beginnen mit der NS-Zeit und werfen auch einen Blick auf die DDR. Heutzutage sind Frauen zwar relativ sicher und überwacht, trotzdem ist das System nicht optimal. Kran- kenkassen zahlen Fallpauschalen, die etwa einen Kaiserschnitt für Krankenhäuser lukra- tiver machen als eine normale Geburt, die schlecht planbar ist. Außerdem gibt es un- glaublich viele Berichte über traumatische Ge- burtserfahrungen, bei denen ohne Vorwarnung Gewalt angewendet wurde. Oft wird auch schlecht kommuniziert, welche Folgen zum Beispiel ein operativer Eingriff hat, und die Kompetenzstreitigkeiten zwischen Hebammen und Ärzteschaft besteht nach wie vor: Wer darf welche Behandlungen durchführen? Dabei geht es gar nicht umWissen, sondern umGeld und Macht. Zugleich hat die Wirtschaft die Geburt für sich entdeckt und kommerzialisiert, von Hormon-Yoga und Hypnose-Geburt bis zur Gender Reveal Party. Schwangerschaft und Geburt werden zum Lifestyle-Thema. Du bist nicht nur Regisseurin, sondern auch Kostüm- und Figurenbildnerin. Mit welchen ästhetischen Mitteln bringst du diese kom- plexe Thematik auf die Bühne? Mir war es sehr wichtig, das recherchierte Ma- terial sinnlich zu übersetzen und ein Gefühl für die jeweilige historische Zeit zu schaffen. Da- bei versuche ich, sehr behutsam vorzugehen und nicht vorschnell zu urteilen. Wir haben mit Pablo Konrad nur einen Schauspieler auf der Bühne und erschaffen zusätzlich mit Figuren und Live-Video ein Art Collage aus symbolisch aufgeladenen Räumen. Im ersten Teil ist der imMittalalter allgegenwärtige Tod die Haupt- figur, die spielerisch und provokant in viele ver- schiedene Rollen schlüpft. Die Masken, die ich aus Stoff nähe, wirken dabei menschlich und zugleich abstrakt. Außerdem gibt es zwei Pries- ter in Form von Handpuppen, die zu jener Zeit auf Jahrmärkten ja auch sehr populär waren. Zusätzlich arbeite ich mit Elementen des ja- panischen Butoh-Tanzes, bei dem die Tänzer sich komplett weiß eintalken. Im zweiten Teil haben wir einen Geburtshausdirektor aus ver- schiedensten Materialien zusammengebaut. Ein ziemlich gruseliger Typ, der auf historischen Vorlagen beruht und bei uns als morbide Clownsfigur auftritt. Den dritten Teil „Ready to Pop“ werden wir dann etwas bunter und pop- piger aufziehen. Warum hast du deine Trilogie, deren Stoff zunächst einmal die Frauen betrifft, mit einemmännlichen Darsteller besetzt? Ich möchte herausstellen, dass es sich hierbei nicht um ein Frauen-, sondern um ein Men- schenthema handelt. Auch Männer leiden unter dem patriarchalen System. Der männ- liche Tod, der in die verschiedenen Rollen schlüpft, ist ein Abstraktionsmittel. Über die Bühnenästhetik und die weiblichen Stimmen bekommen aber auch die Frauen bei uns sehr viel Raum. Gehst du mit fertigen Konzepten in die Pro- benphasen? Nein, wir setzen uns zunächst mal mit unseren Büchern zusammen an einen Tisch. Irgend- wann haben wir dann einen riesigen Kartei- kasten mit Texten, die wir collagenartig sortie- ren. Dann gucken wir, welches Bühnenmittel zu welchem Thema passt. Die fertige Textfas- sung haben wir oft erst zwei Tage vor der Pre- miere. Sechs Tage nach der Uraufführung des drit- ten Teils wird zum Abschluss des Projekts eure Trilogie am 22. und 23. Juni von 22 Uhr bis circa 4 Uhr morgens jeweils komplett ge- zeigt. Die reine Aufführungszeit ist aber deut- lich kürzer … Bei unserem abschließenden Fest wird es zwi- schen den einzelnen Teilen Publikumsgesprä- che mit Essen und Trinken geben, zu denen wir noch weitere Expert:innen eingeladen ha- ben. Wir haben gemerkt, dass der Redebedarf nach unseren Aufführungen sehr groß ist. Interview: Sören Ingwersen 16. JUNI TEIL 3 (URAUFFÜHRUNG), 17.6.; 22., 23.6. DIE TRILOGIE; Monsun Theater 18 Foto: Swing Latino Foto: Sinje Hasheider Varieté de Buena Vista Ein unscheinbarer Treffpunkt, der Social Club in Havannas Stadtteil „Buenavista“, wurde in den 1990er- Jahren durch Musik weltberühmt: zunächst dank der dort beheimateten Band, dann über ein erfolgreiches Musikalbum und schließlich durch Wim Wenders’ gleichnamigen Dokumentarfilm „Buena Vista Social Club“. Tatsächlich gab es den Club schon in den 1940er-Jahren, und die meisten der un- sterblichen Hits sind nur wenig jünger. In der neuen Show „Varieté de Buena Vista“ gelingt es, die einmalige Atmosphäre aus Havannas be- rüchtigten Bars noch einmal aufleben zu lassen. Mit dabei ist Posau- nist Jesus „Aguaje“ Ramos, der seinerzeit zur Originalbesetzung des Soundtracks gehörte. Mitreißende Rhythmen, zu Herzen gehender Ge- sang und feurig getanzter Salsa werden um Akrobatik auf Rola-Bola und einen männlichen Pole-Act bereichert. (def) 9.-11. JUNI (VORAUFFÜHRUNGEN), 12. JUNI (PREMIERE), 14. JUNI- 2. SEPTEMBER (TÄGLICH AUSSER MONTAGS); Hansa-Theater Onkel Wanja Tschechows „Onkel Wanja“ reibt sich für ein Landgut auf, das nicht ihm gehört, aber seine Existenz sichert. Als ihm die von genau je- nem Mann genommen werden soll, der ohne Arbeit Nutzen aus dem Besitz zieht, greift Onkel Wanja zur Waffe … Kein Stoff für Grundschulkinder, oder? Dennoch entwickelt der junge Regisseur Lorenz Nolting nach Motiven von Anton Tschechow ein Stück in einem interaktiven Format für Publikum ab acht Jahren. Dafür ver- wandelt er die ursprünglichen Figuren des Dramas in Tiere, die russischen Ländereien werden zur Farm. Sein Ausgangspunkt: Aus Kindersicht haben Erwachsene immer zu viel Arbeit und zu wenig Zeit, und diese Aufteilung scheint sie auch noch unglück- lich zu machen. Also sollte sich die nächste Generation einmal fragen, ob es nicht eine erstre- bens- und le- benswerte Alter- native für sie gibt. (def) 10. JUNI (PREMIERE), 13.–15. JUNI; Junges Schauspielhaus THEATER DE HEVEN SCHALL TÖVEN KOMÖDIE VON DOMINIQUE LORENZ AUF PLATT- & HOCHDEUTSCH 28.5. – 2.7.2023 Foto: Sinje Hasheider
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