hamburg:pur Juni 2021

Glück auf einer Skala von 1 bis 10 Igor (Alexandre Jollien) jobbt als Fahrradkurier für Biogemüse, er lebt allein. Mehr Kontakt zu anderen Menschen wäre schön, aber der hu­ morvolle Vierzigjährige weiß, dass ihn die meisten aufgrund seiner zerebralen Lähmung für geistig behindert halten, ihn bewusst mei­ den. Spinoza, Sokrates, Epikur und Nietzsche sind seine spirituellen Weggefährten geworden, die Philosophie seine Überlebensstrategie. Durch einen Unfall trifft er auf Louis (Bernard Campan) und fährt die­ sen in ein Krankenhaus. Der höfliche Bestattungsunternehmer ist Ende 50, wirkt verschlossen und kennt nur seine Arbeit. Die unverhoffte Bekanntschaft begeistert Igor, er bedankt sich mit einer Ananas, möchte alles über Särge wissen. Louis reagiert leicht befremdet, insbesondere als er ihn später auf der Fahrt von Lau­ sanne nach Südfrankreich in seinem Leichenwagen entdeckt. Da­ rauf angesprochen zitiert Igor Lehrmeister Platon: Philosophieren bedeute sich imSterben üben. Eigentlich will Louis den blinden Pas­ sagier schnell wieder loswerden, doch stattdessen beginnt eine emo­ tional abenteuerliche, gemeinsame Reise mit prägenden Begegnun­ gen. Die zwei Männer könnten nicht unterschiedlicher sein und doch verbindet sie viel: Wunden, sichtbare wie auch unsichtbare, verbor­ gen unter Schichten von Schuldgefühlen, Ängsten und Hoffnungs­ losigkeit. Die beiden Protagonisten liefern sich wundervolle dialektische Wort­ duelle. „Glück auf einer Skala von 1 bis 10“ will mehr sein als herz­ erwärmende Buddy-Komödie oder charmanter Selbstfindungstrip. Der Film bricht Tabus, eröffnet neue Sichtweisen auf Leben und Tod, die eigene, oft absurde Existenz und den Wert von Empathie. Der amüsante schwarze Humor täuscht nicht darüber hinweg, wie hart es ist, nie wirklich die eigenen Bewegungen kontrollieren zu können. Alexandre Jollien, renommierter Philosoph und Autor, ist seit 17 Jah­ ren mit Bernard Campan, dem französischen Regisseur und Komiker („Alles kein Problem!“), befreundet. Gemeinsam schrieben sie das Drehbuch, führten Regie und glänzen schauspielerisch Seite an Sei­ te als hinreißendes, selbstironisches Duo. (ag) AB 2. JUNI F 2021; 92 Min.; R: Bernard Campan, Alexandre Jollien; D: Bernard Campan, Alexandre Jollien, Julie-Anne Roth ★★★★ ★ France Frances Leben ist eine einzige Inszenierung: Als französische Star­ reporterin schiebt sie arabische Rebellen wie Statisten durch das Bild, lässt sie Maschinengewehre in die Luft recken, spricht vor ex­ plodierenden Häusern mit knallrot geschminkten Lippen. Sie springt in ein Flüchtlingsboot, suggeriert die gefährliche Überfahrt haut­ nah zu dokumentieren, während sie die Nächte auf einer beglei­ tenden Motorjacht verbringt. In Studiogesprächen lässt sie Politi­ ker ihr Blabla verkünden, um diese samt Zuschauern anschließend mit einem süffisanten Kommentar zu entlassen. Selbst der Antwort des geschickt ins Bild geschnittenen realen Staatspräsidenten Em­ manuel Macron bei einer Pressekonferenz hört sie gar nicht zu. France (Léa Seydoux) geht es einzig und allein um ihre Selbstdar­ stellung. Die Menschen lieben sie dafür, werden sie später aber noch dafür hassen. Eines Tages gerät Frances Leben durch einen lächerlichen Unfall aus den Fugen: Im Pariser Stau fährt sie mit ihrem Auto einen jun­ gen Marokkaner auf seinemMofa an, der sich dabei eine eher leichte Knieverletzung zuzieht. Plötzlich plagen France Gewissensbisse, grundlos bricht sie vor der Kamera in Tränen aus, stellt fest, dass sie den Kontakt zu ihrem Mann und ihrem Sohn verloren hat, mit denen sie in einer riesigen musealen, kulissenhaften Wohnung lebt. Seydoux spielt die zynische und selbstverliebte Journalistin mit einer Abgebrühtheit und Theatralik, die in ihrer Ernsthaftigkeit den Atem stocken lässt. Regisseur Bruno Dumont („Jeanne d’Arc“) zeich­ net das alles in hyperrealistischen Bildern nach und entlarvt die Inszenierung nach bestemBrecht’schemVorbild. Nie ist einem der Gefühlsausbrüche von France zu trauen. „France“ ist nicht nur eine bitterböse Mediensatire, sie erzählt auch von einer sensations­ gierigen Gesellschaft und lässt sich – der Titel deutet es unmiss­ verständlich an – als Personifikation Frankreichs lesen. Eine hoch­ gradig stilistische Inszenierung der Inszenierung. Großartig. (bs) AB 9. JUNI F/IT/D/BEL 2021; 133 Min.; R: Bruno Dumont; D: Léa Seydoux, Blanche Gardin, Benjamin Biolay ★★★★ ★ Foto: X Verleih Foto: R. Arpajou/3B PRODUCTIONS FILM 24 25 FILM Sundown – Geheimnisse in Acapulco In einem luxuriösen Strandhotel in Acapulco (Mexiko) verbringen Neil (Tim Roth), Alice (Charlotte Gainsbourg) und ihre Kinder ent- spannt Urlaub. Doch das idyllischeMiteinander findet ein rasches Ende, als Alice einen Anruf aus dem heimatlichen London erhält. Ihre Mutter ist verstorben – und damit auch die Erholung. Rasch werden die Koffer gepackt und der Flughafen aufgesucht. Doch Neil hat seinen Pass im Hotel vergessen, weshalb er vorerst in Acapulco zurückbleibt. Zurück amStrand lügt er Alice an, gibt vor, mit dem Konsulat in Verbindung zu stehen. Stattdessen hängt er auf einem Plastikstuhl am Strand ab, bucht sich in einem neuen Hotel ein und lernt eine hübsche mexikanische Shop-Betreiberin namens Berenice (Iazua Larios) kennen. Eines Tages steht Alice vor ihm und stellt ihn zur Rede, erzürnt darüber, dass er sich vor der gemeinsamen Verantwortung davonstiehlt und sie anlügt. Statt darauf einzugehen, bittet Neil darum, die gemeinsame Erbschaft an sie abtreten zu dürfen. Neil hüllt sich in Schweigen, zieht sich immer mehr zurück. Doch nach und nach treten in der glühenden Sonne Acapulcos überraschende Geheimnisse zutage … Regisseur und Drehbuchautor Michel Franco („New Order – Die neue Weltordnung“) bietet mit „Sundown – Geheimnisse in Aca- pulco“ ein intensives Erlebnis, das von der sich langsam aufbau- enden Spannung lebt. Die Frage nach Neils Motiven wird umso lauter, je leiser und idyllischer das Urlaubsgefühl die Zuschauer einnimmt. Dieses wird durch den ruhigen Erzählstil und die wun- derschönen Kameraaufnahmen (Yves Cape) der Standkulisse subtil und gekonnt übertragen. Dass dieses mexikanische Idyll von einer Sekunde zur nächsten in Gewalt kippen kann, wird nicht verschwiegen: Sonnen- und Schattenseiten von Acapulco liegen nah beieinander und spiegeln auch das Seelenleben des Prota- gonisten, der von TimRoth („Bergman Island“, „Pulp Fiction“) gran- dios dargestellt wird. Dieser trägt ein monströses Geheimnis in sich, von dem es kein Entkommen gibt – und das einen sprachlos im Kinosessel zurücklässt. (mag) AB 9. JUNI MEX/F/S 2021; 83 Min.; R: Michel Franco; D: Tim Roth, Charlotte Gainsbourg, Iazua Larios ★★★★ ★ Foto: Ascot Elite Entertainment Kulturlaub mit der MIT DER NDR KULTUR KARTE ZU ERMÄ ß IGTEN PREISEN KULTUR IN NORDDEUTSCHLAND ERLEBEN. Mehr erfahren unter ndrkulturkarte.de

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