Juni 2019
KRITIKEN Roads Mit „Victoria“ und „Absolute Giganten“ schuf Sebastian Schipper Meilen- steine des deutschen Kinos. Nun überzeugt er mit einer sensibel erzählten Geschichte über zwei Teenager. Beide sind gleichermaßen Flüchtende wie Suchende – nach Identität und einer Zukunft, die noch keine Konturen hat. Gyllen (Fionn Whitehead, „Dunkirk“), ein 18-Jähriger aus London, macht mit seiner Familie Urlaub in Marokko. Nach einem Streit „borgt“ er sich das Wohnmobil des Stiefvaters, um nach Frankreich zu seinem Vater abzu- hauen. Als das Gefährt liegen bleibt, begegnet er dem gleichaltrigen William (Stéphane Bak), der aus dem Kongo geflüchtet ist. Auch er will nach Frank- reich: um seinen Bruder zu suchen. Vor allem im letzten Drittel des Films bringt Schipper sein wichtiges Thema auf den Punkt, indem er die Freund- schaft auf die Zerreißprobe stellt. Bestechend ist dabei der realistische Blick, mit dem er die Situation Geflüchteter in Europa einfängt. Mehr noch ist „Roads“ aber ein leiser Coming-of-Age-Film, der den Fokus mehr auf Ge- meinsamkeiten als auf Unterschiede legt, ohne diese zu relativieren. (kj) AB 30. MAI D/F 2018; 99 Min.; R: Sebastian Schipper; D: Fionn White- head, Stéphane Bak, Moritz Bleibtreu ★★★★ ★ Zwischen den Zeilen Nach der Geistermär „Personal Shopper“ wirft Olivier Assayas nun einen Blick auf den Pariser Literaturbetrieb. Dabei blendet er sich ungezwungen in den Alltag seiner Figuren ein, die nicht nur mit beruflichen Herausfor- derungen, sondern auch mit den Irrungen und Wirrungen der Liebe zu kämpfen haben: Der Verleger Alain Danielson (Guillaume Canet) steht vor der Frage, wie er sein Geschäft in Zukunft gestalten soll, und zweifelt noch dazu am neuen Roman seines Stammautors Léonard Spiegel (Vincent Macaigne), der in seinen Werken stets nur leicht verfremdet seine amourö- sen Abenteuer ausbreitet. Aktuell hat er ausgerechnet eine Affäre mit Alains Ehefrau Selena (Juliette Binoche), die ihrerseits als Star einer Krimi- serie immer größere Bekanntheit erlangt. Assayas macht aus dieser Gemengelage keinen seichten romantischen Reigen, sondern brennt ein Dialogfeuerwerk ab, das um diverse spannende Themen kreist. Manch- mal ist „Zwischen den Zeilen“ vielleicht etwas zu geschwätzig. Erstaun- lich oft sind die Überle- gungen und Einsichten aber anregend, unter- haltsam und überdies mit feinen komischen Zwi- schentönen garniert. (cd) AB 6. JUNI F 2018; 107 Min.; R: Olivier Assayas; D: Guillaume Canet, Juliette Binoche, Vincent Macaigne ★★★★ ★ Der Klavierspieler vom Gare du Nord Als „Ziemlich beste Freunde am Klavier“ adelte filmstarts.de den neuen Films von Ludovic Bernard. Auf den ersten Blick stimmt das. Auf den zweiten nicht mehr. An der stark bevölkerten U-Bahn-Station Gare du Nord entdeckt Pierre Geithner (Lambert Wilson), Leiter des Pariser Konservatoriums für Musik, das bislang unbekannte Genie Mathieu Malinski (Jules Benchetrit) aus der Banlieue (Vorstadt) beim Spielen eines dort für jedermann aufgestellten Kla- viers. Malinski spielt brillant, doch er ist auch ein Kleinkrimineller, jung, verstockt. Bald darauf gerät er in Schwierigkeiten. Geithner hilft ihm aus dem Knast. Der Preis: Malinski soll für das Konservatorium den Exzellenz- wettbewerb gewinnen. Leider gestaltet sich der Weg zum früh absehbaren Triumph zu konventionell. Klassengegensätze inklusive alter Traumata wer- den routiniert zelebriert, der Scheinkonflikt in Malinskis Liebesgeschichte mit Anna (Karidja Touré) ist überflüssig, das Finale völlig verkitscht. Origi- nelle Szenen wie in „Ziemlich beste Freunde“ (Orgasmus durch Ohrkraulen!) fehlen. Die Light-Version des angeblichen Originals ist Mittelmaß. Aber im- merhin ein Fest für die Ohren. (misch) AB 20. JUNI F 2017; 106 Min.; R: Ludovic Bernard; D: Jules Benchetrit, Lambert Wilson, Kristin Scott Thomas ★★★ ★★ Foto: Studiocanal / Eniac Martinez Foto: Neue Visionen Filmverleih Foto: Alamode Film 37 3 TIPPS FILM ALTONALE Was ist Reichtum? An acht Orten, auf zwei Monitoren und sieben Leinwänden geht die 11. Film Altonale dieser Frage in 19 kurzen und sechs langen Filmen auf den Grund. Geld, Heimat, Liebe, Gesundheit, Kreativität – es gibt vieles, das das Leben reicher macht und eine genauere Betrachtung und kontro- verse Diskussionen verdient. Bei einigen Screenings wird es deshalb auch Film- gespräche geben. Ein Highlight wird gewiss der inszenierte Dokumentarfilm „Nichts ist besser als gar nichts“ von Jan Peters. (sh) 8. JUNI 18 Uhr; Thalia Gaußstraße; www.altonale.de FRANZÖSISCHE FILMTAGE Die Französischen Filmtage holen alljährlich aktuelle Produktionen nach Hamburg – in der Originalfassung, mit deutschen oder englischen Un- tertiteln. Zehn Filme werden in diesem Jahr im Metropolis Kino zu sehen sein, dazu erstmalig auch eine Sneak Preview. Die Retrospektive widmet sich französischen Originalen und ihren Remakes. Los geht es am 13. Juni um 19:30 Uhr mit „Mein Leben mit Amanda“ von Mikhaël Hers und einem Weinempfang. (sh) 13.– 23.6. Metropolis Kino; www.franzoesische-filmtage-hamburg.de MO&FRIESE KINDERKURZFILMFESTIVAL „Große Töne“ kannste spucken, hören und fabrizieren. Und sehen: Es ist das Motto des diesjährigen Kinderkurzfilmfestivals Mo&Friese. In einem altersgerecht gestaffelten Programm für vier- bis 20-Jährige gibt es an neun Tagen Shortys zum Thema zu sehen. Außerdem sind zwei Sonderprogramme geplant: Die Kleinen bekommen in „toons ’n’ tunes“ Cartoonfilme aus den 20er Jahren und eigens produzierte Clips mit Live-Musik zu sehen, die Teens können sich in „Regenbogen“ mit Liebe, Freundschaft, Geschlechts- identität und Sexualität auseinandersetzen. (sh) 2.–10.6. moundfriese.shortfilm.com
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