hamburg:pur Mai 2025

Foto: Alamode Film FILM OSLO STORIES: TRÄUME Liebe, Fantasie und Identität Gewinnerfilm der Berlinale, der federleicht von der Liebe in modernen Zeiten erzählt Sanft gleitet man in das Leben der 16-jährigen Johanne (Ella Øverbye) hinein. Hier eine Mo- dern-Dance-Stunde, da ein Plausch am Fahr- radständer. Nichts wirkt spektakulär, und doch erzählt der Film von großen Dingen: von Liebe, Fantasie und Identität – und davon, wie es ist, wenn man das erste Mal sein Herz verliert. So wie Johanne, als ihre neue Lehrerin Johanna (Selome Emnetu) die Klasse betritt, die jung und strahlend ist und fast denselben Namen trägt. Johanne möchte nichts mehr als Jo­ hanna nah zu sein und steht eines Abends vor ihrer Wohnungstür. „Es war wie ein Sturz von der Klippe: Entweder würde ich gerettet oder mein Leben wäre zu Ende“, erzählt das junge Mädchen aus demOff. Und was dann passiert, daraus knüpft der norwegische Filmemacher und Schriftsteller Dag Johan Haugerud einen Sommernachtstraum umWahrheit und Fiktion, um die Macht der Liebe – und des Schreibens. Denn um ihre flammenden Gefühle niemals zu vergessen, hält Johanne sie in einem intimen Roman fest, der bald seine Runde macht. Männer braucht Hagerud für seine „Meditation über die Liebe“ nicht, wie die Berlinale-Jury den Goldenen-Bären-Gewinner beschrieb. Stattdessen taucht der Film ein in die Sehn- süchte ganz unterschiedlicher Frauen, erzählt von Stärken und verpassten Chancen und schaut dabei Teeblumen zu, wie sie sich öff- nen, lässt Stricknadeln klappern und aus­ gelassen über den Eighties-Tanzfilm „Flash- dance“ streiten. Dass das alles ein Mann ge- schrieben und inszeniert hat, diese Diskussio- nen hat „Oslo Stories: Träume“ längst hinter sich gelassen. Auch Gender und sexuelle Orientierung spielen keine Rolle mehr. Alles fließt in diesem so gegenwärtigen Liebesfilm, der Teil von Haugeruds „Oslo-Trilogie“ ist. Alle drei Filme, die ganz eigene Geschichten erzäh- len, sind jetzt im Kino zu sehen: „Liebe“ (seit 17.4.), „Sehnsucht“ (ab 22.5.) – und „Träume“. Leicht und heiter erkunden sie kleine Gesten und große Gefühle, erzählen von Toleranz und wie wir einander verstehen können – und das ist gerade in heutigen Zeiten ein Glück. Text: Sabine Danek AB 8. MAI 110 Min., R: Dag Johan Haugerud, D: Ella Øverbye, Selome Emnetu, Ane Dahl Torp ★★★★★ hamburg:pur Aktion! Für die Vorstellung von „Oslo-Stories: Träume“ am 8.5., 20.30 Uhr in den Zeise Kinos verlosen wir 10 x 2 Karten. E-Mail mit Name und Betreff „Oslo“ an verlosung@ szene-hamburg.com ; Einsendeschluss: 5.5. 8 9 Foto: Leonine FILM Islands Tom (großartig: Sam Riley) arbeitet als Tennistrainer in einem Hotelressort auf Fuerteventura. Was auf den ers­ ten Blick wie der Traum vom endlosen Sommer wirken mag, ist für ihn seit zehn Jahren triste Alltagsroutine: ein zielloses Dasein, scheinbar ohne Sorgen, ohne Verant­ wortung mit langen Nächten, Alkohol, Drogen und flüch­ tigen Affären. Morgens wacht er am Pool oder draußen zwischen den Dünen auf, ohne Erinnerung an die vergan­ genen Stunden – totaler Filmriss. Doch dann begegnet er der geheimnisvollen Anne (Stacy Martin). Sie, ihr Mann Dave und der achtjährige Anton entsprechen nicht dem Bild der üblichen Pauschaltouristen. Das britische Ehe­ paar ist kultivierter, Luxus gewöhnt. Tom besorgt ein Up­ grade, zeigt ihnen auf einem Ausflug die raue Schönheit der Insel. Es folgt ein gemeinsames Dinner. Am nächsten Tag ist Dave verschwunden. Anne reagiert seltsam kühl, fast unbeteiligt auf das Verschwinden ihres Gatten, pro­ voziert so das Misstrauen der ermittelnden Polizeibeam­ ten: Suizid oder doch Mord? Eine verwirrende Spuren­ suche beginnt. Tom bleibt an Annes Seite, ist mittlerweile überzeugt, sie von früher zu kennen, der Vater ihres Soh­ nes zu sein. Regisseur Jan-Ole Gerster („O Boy“, „Lara“) faszinierten schon immer Charaktere, die ein gewisses Gefühl von Einsamkeit und Verlorenheit in sich tragen. Sie hadern mit verpassten Chancen, sehnen sich nach Nähe und sind doch unfähig dazu. Die Vulkane der Kanarischen Inseln grollen, aber brechen nie aus: perfekte Metapher für unterdrückte Obsessionen. Von der Flucht träumt hier jeder der Protagonisten, wagen tut es nur ein Kamel. „Is­ lands“ ist Gersters erster in Englisch gedrehter Film, ein intensiver subtiler Psychothriller mit virtuosen Twists in der Tradition von Patricia Highsmith und Alfred Hitchcock, aber gerade diese Ähnlichkeit verführt zu voreiligen Rück­ schlüssen. Überall schleichen sich Referenzen ein wie aus Michelangelo Antonionis Drama „L’avventura“ aus dem Jahr 1960. Bestechend die Bildkompositionen aus Bewe­ gung und Licht, sie erzeugen eine tagtraumartige hypno­ tische Qualität, geben der Sprachlosigkeit und Leere ihre tragische Bedrohlichkeit. Und so gleicht die Hotelanlage zwischen den Sanddünen aus der Ferne einem gestran­ deten Schiffswrack. Text: Anna Grillet AB 8. MAI 123 Min., R: Jan-Ole Gerster, D: Sam Riley, Stacy Martin, Jack Farthing ★★★★★ Foto: Ad Vitam Caught by the Tides Der neue Film des chinesischen Regisseurs Jia Zhangke ist sowohl ästhetisch als auch erzählerisch eine Art Expe­ riment. Er beschreibt die gescheiterte Beziehung eines Paares aus der nordchinesischen Provinz. Ihre Geschichte ist untrennbar eingebettet in die gesellschaftlichen Um­ wälzungen, die China von 2001 bis 2022 (die chronologi­ schen Eckpfeiler des Films) durchlief. Zhangkes langjährige Muse Zhao Tao beeindruckt in der Hauptrolle. Qiao aus der Provinzstadt Datong schlägt sich zu Anfang als­ Tänzerin und Sängerin in einem heruntergekommenen Kul­ turzentrum durch. Hier trifft sie den Musikpromoter Bin (Li Zhubin). Ehe Qiao sich versieht, steckt sie in einer to­ xischen Beziehung mit dem launischen Möchtegern-Busi­ nessman. Bin macht auch vor physischem Missbrauch nicht halt. Doch dann verschwindet er plötzlich. Per SMS teilt er Qiao mit, dass er anderswo sein Glück versuchen und sie angeblich später nachholen wird. Darauf wartet Qiao lange vergeblich. Jahre später macht sich die Ge­ schasste auf die Suche nach dem verschwundenen Part­ ner. Sie weiß, dass Bin auf einer der zahlreichen Baustellen des gigantischen Drei-Schluchten-Staudamms am Jang­ tse-Fluss arbeitet. Es ist der Wunsch, ihm nach seinem feigen Abgang noch einmal in die Augen zu schauen und einen Schlussstrich ziehen, der Qiao antreibt. Zhangkes filmische Langzeitbeobachtung dieser starken Frau ge­ lingt auch deshalb so umwerfend, weil er für „Caught by the Tides“ auf ungenutztes Filmmaterial älterer Projekte zurückgriff, bei denen Zhao Tao ebenfalls mitwirkte. Wir sehen Qiao im Fortlauf der Handlung also tatsächlich (sehr anmutig) altern; ein Effekt, den keine noch so gute Maske oder KI zu erreichen imstande wäre. Zhangkes filmisches „Aus alt mach neu“ begründet sich in Chinas rigiden Co­ vid-Restriktionen, die es ihm zum Zeitpunkt der Umset­ zung unmöglich machten, einen regulären Dreh durchzu­ führen. Doch seine Notlösung erweist sich als Glücksgriff, generiert sie doch eine sehr einnehmende, das Schicksal eines ganzen Landes widerspiegelnde Geschichte von Liebe und Leid. Text: Calle Claus AB 15. MAI 111 Min., R: Jia Zhangke, D: Zhao Tao, Li Zhubin, Pan Jianlin ★★★★★

RkJQdWJsaXNoZXIy MjI2ODAz