hamburg:pur Mai 2024
Foto: 2Pilots/So Quiet Films Foto: PLAION PICTURES FILM Touched Im neuen Film von Claudia Rorarius dreht sich alles um die titel- gebenden Berührungen, sowohl um ersehnte als um aufgedrängte. Der ehemalige Tänzer Alex (Stavros Zafeiris) ist seit einemUnfall querschnittsgelähmt. Von anderen berührt zu werden, das ist für ihn somit schiere Notwendigkeit, benötigt er doch bei allen täg- lichen Verrichtungen fremde Hilfe. Dann bekommt er eine neue Pflegerin, Maria (Ísold Halldórudóttir). Der schmale Alex wirkt in den Armen der wuchtigen Hilfskraft geradezu winzig. Die körper- liche Präsenz beider Schauspieler ist von Beginn an eindrucks- voll. Alex-Darsteller Stavros Zafeiris teilt auch im echten Leben das Schicksal seiner Filmfigur. Nur schaffte er es, trotz seiner Behinderung weiter einer professionellen Tanzkarriere nach zugehen. Ísold Halldórudóttir, die Maria verkörpert, ist Body Po- sitivity-Aktivistin und in ihrer Heimat Island ein bekanntes Plus- Size-Model. Maria, im Leben außerhalb des Jobs offenbar eine einsame See- le, fühlt sich vom ersten Moment an zu Alex hingezogen. Sie be- ginnt, rote Linien zwischen Pfleger und Patient zu überschreiten. Alex nimmt ihre Übergriffigkeiten hin, schließlich kann ein kopf- abwärts Gelähmter schlecht die Flucht ergreifen. Stattdessen greift er zu perfiden Psycho-Spielchen, umMaria ihre körperliche Übermacht heimzuzahlen. Alex’ Ex erscheint auf der Bildfläche. Maria kocht vor Eifersucht, was wiederum körperliche Demüti- gungen nach sich zieht. Dem Zuschauer fällt es irgendwann schwer, zu entscheiden, was abstoßender ist: Alex’ unkontrolliert aufflam- mende Aggressivität und seine höhnischen Kommentare zu Marias Körperfülle oder Marias erotisch aufgeladenen „Pflege“-Sessions, bei denen sie sich wenig um Alex’ Zustimmung schert. Was als neugieriges Abtasten zweier verwandter Seelen beginnt, wird mehr und mehr zu einem toxischen, repetitiven Teufelskreis, aus dem es für beide Beteiligten kein Entrinnen gibt. „Touched“ ist ein ein- drucksvolles „Pflege-Kammerspiel“, allerdings macht der Film es dem Zuschauer am Ende schwer, den anfangs einnehmenden Protagonisten emotional die Stange zu halten. (cc) AB 2. MAI D 2023; 133 Min.; R: Claudia Rorarius; D: Ísold Halldórudóttir, Stavros Zafeiris, Angeliki Papoulia ★★★★★ Robot Dreams Ein einsamer Hund, ein träumender Roboter und ein musikali- sches New York der 1980er-Jahre: Aus diesen Komponenten hat Regisseur Pablo Berger mit seinem oscarnominierten Animations- film „Robot Dreams“ ein buntes Wimmelbild für die ganze Familie gezaubert. HUND ist unglücklich in seinem einsamen Alltag inmitten der be- wegten Großstadt, die ihn immer wieder daran erinnert, wie schön das Leben in Zweisamkeit sein kann. Ein Roboter zum selber bauen soll Abhilfe schaffen. Die beiden verstehen sich auf Anhieb, bald unzertrennlich, verbringen die ungewöhnlichen Freunde einen wunderbaren Sommer. Als ROBO jedoch bei einemStrandausflug reglos im Sand liegen bleibt, muss HUND ihn schweren Herzens zurücklassen. Seine Versuche, ihn zurückzuholen, erweisen sich bald als schwierig … Schlagartig zieht „Robot Dreams“ seine Zuschauer hinein in das von herrlich typisierten Tieren bewohnte New York – nostalgisch, romantisch und neurotisch inszeniert, wie es Woody Allen („Man- hattan“) gefallen dürfte. Die Anthropomorphisierung macht sich Berger zunutze, um den Großstadtdschungel und dessen kuriose Charaktertypen anekdotisch herauszuarbeiten und liebevoll zu karikieren – gänzlich ohne Sprache. Müsste man diesen Streifen mit einem Wort beschreiben, so wäre es wohl das Adjektiv „de- tailverliebt“: Jeder Zentimeter der Leinwand ist gefüllt mit gra fischer Virtuosität, Filmliebhaber können sich an zahlreichen Zitaten aus der Filmgeschichte erfreuen. Im visuellen Stile der gleichnamigen Graphic-Novel-Vorlage von Sara Varon, lässt der Film seine Zuschauer schwelgen und entdecken, es wird auf Roll- schuhen zu „September“ von Earth, Wind & Fire getanzt, zu Jazz- musik gesteppt und der ein oder andere leckere Hotdog verspeist. Auch die kleinen Kinobesucher dürften daran ihre Freude finden. Zugegeben, für die Komplexität der Geschichte an sich hätte ver- mutlich ein Kurzfilm ausgereicht. Aber wenn die Figuren sich am Ende einmal mehr zueinander träumen, dann ist man sich sicher, seiner Seele mit den etwa anderthalb Stunden etwas wahrhaft Gutes getan zu haben. (rk) AB 9. MAI SP/F 2023; 103 Min.; R: Pablo Berger ★★★★★ hamburg:pur Aktion! Für eine Vorstellung des Films „Robot Dreams“ am 9.5., 20 Uhr in den Zeise Kinos verlosen wir 10 x 2 Karten. E-Mail mit Name und Betreff „Robot Dreams“ an verlosung@szene-hamburg.com ; Einsendeschluss: 7.5. 24 25 Foto: SquareOne Entertainment Foto: Port au Prince Pictures/Contando Films/ Studio Zentral/Network Movie FILM Das Zimmer der Wunder Das Drama mit der Komödie zu verschmelzen, dabei weder große Gefühle noch unermessliches Pathos zu scheuen und das mit einer ungeheuren Leichtigkeit – das beherrschen französische Filmemacherinnen und -macher meisterhaft. Von solch einer po- etischen Märchenhaftigkeit ist Lisa Azuelos’ Verfilmung des gleich- namigen internationalen Bestsellers „Das Zimmer der Wunder“ von Julien Sandrel. Die alleinerziehende Thelma (großartig: Alexandra Lamy) lebt mit ihremSohn Louis (Hugo Questel) in Paris. Engagiert ist sie, liebe- voll, immer ein wenig gestresst. In dem Logistikunternehmen, in dem sie arbeitet, macht sie den Mund auf, zu Hause schläft sie schon mal gemeinsam mit ihrem Sohn auf dem Sofa vor dem Fernseher ein, nicht ohne ihn noch zu guten Noten ermahnt zu haben. Als sie eines Morgens zur Schule und Arbeit eilen, verun- glückt Louis mit seinemSkateboard und fällt ins Koma. Die Ärzte machen Thelma und ihrer ebenso liebevollen, ein wenig verrück- ten Mutter (Muriel Robin) wenig Hoffnung. Doch Thelma will nicht aufgeben. Nach einiger Zeit entdeckt sie in Louis’ Zimmer ein Notizbuch mit „Dingen, die ich vor dem Weltuntergang machen will, denn der könnte früher kommen als gedacht“. Und so lernt Thelma ihren Sohn ganz neu kennen, erfährt von seinen Talenten als Zeichner und Skateboarder – und von seinen geheimen Wünschen. Thelma beginnt, diese Bucket List stellvertretend für Louis abzuarbeiten, im festen Glauben, ihn damit zu retten. Die Aufgaben, denen sie sich stellt, sind von Unmöglichkeiten ge- prägt und völlig unrealistisch: Sie fliegt nach Japan, um ein Auto- gramm eines niemals in der Öffentlichkeit erscheinenden Man- ga-Zeichners zu bekommen, taucht ohne Tauchschein mit Walen imAtlantik, nimmt Kontakt zu dem unwissenden Vater von Louis auf. Mit der Hartnäckigkeit einer Löwin öffnet sie die Herzen der Menschen und wächst über sich hinaus. „Das Zimmer der Wun- der“ ist ein Plädoyer für die Menschlichkeit, Kitsch im besten Sin- ne, so berührend, eindringlich und leicht, wie es wohl nur im fran- zösischen Kino möglich ist. (bs) AB 16. MAI F 2023; 99 Min.; R: Lisa Azuelos; D: Alexandra Lamy, Muriel Robin, Hugo Questel ★★★★★ Alle die Du bist Es ist ein Spiel mit der Verwirrung – gleich von Beginn an. Oder vielmehr ein Spiel mit den vielen Rollen, die Nadine (Aenne Schwarz) einnehmen muss: Die Frau um die 40 wird in die Werks- halle gerufen, um ihren Mann Paul (Carlo Ljubek) zu beruhigen. Der hat sich mit einer Panikattacke verschanzt. Beruhigend redet Nadine auf ihn ein. Als die Kamera einen Schwenk macht, er- scheint nicht etwa Paul, sondern ein Rind, wütend und kraftstrot- zend. Wenig später ist es ein kleines Kind, das Nadine liebevoll streichelt. Michael Fetter Nathansky erzählt in seinem berühren- den Liebesdrama von einer schwindenden Liebe, gibt Hoffnung, ohne in den Kitsch zu verfallen. Nadine ist einst aus Ostdeutschland an den Rand des rheinischen Kohleabbaus gekommen. Schnell hat sie sich in den sensiblen wie aufbrausenden Paul verliebt. Sie ist zupackend, übernimmt Verantwortung für ihre Kolleginnen und Kollegen, für ihre beiden Töchter, für Paul. Ständig schwankt sie zwischen Erschöpfung, Bitterkeit und Begehren. Ihrer älteren Tochter konnte sie noch nie ihre Liebe zeigen, und Paul wird für sie zunehmend zu einemmul- tiplen Fremden, zum zu behütenden Kleinkind, zum virilen jungen Erwachsenen, selbst zu einem störrischen Rind. Dramaturgisch setzt das Nathansky sehr plakativ um, was zunächst irritiert, viel- leicht auch allzu banal wirkt und doch grandios funktioniert. Mit seiner Lebenspartnerin, der Regisseurin Sophie Linnenbaum, schrieb Nathansky 2022 das Drehbuch zu „The Ordinaries“, und ähnlich wie in diesem fantastischen, futuristischen Drama kreiert Nathansky auch in „Alle die Du bist“ eine eigene Welt, würfelt Zeit- ebenen durcheinander und thematisiert dabei ganz beiläufig und doch bestimmend die Auswirkungen des industriellen Wandels, konkret das Ende des Kohleabbaus. Mit Aenne Schwarz als starke und doch zerbrechliche Nadine und Carlo Ljubek als kindlich- unvernünftiger Paul hat er ein perfektes Darstellerduo gefunden, das den Film von der ersten Minute an trägt. (bs) AB 30. MAI D/SP 2024; 108 Min.; R: Michael Fetter Nathansky; D: Aenne Schwarz, Carlo Ljubek, Youness Aabbaz ★★★★★
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