hamburg:pur Mai 2024
Foto: Eksystent Filmverleih FILM DRAMA Poetische Sehnsucht „Auf trockenen Gräsern“ von Autorenfilmer Nuri Bilge Ceylan („Winter- schlaf“) ist ein poetischer Film über das Leben in einem Dorf in Anatolien, voller Menschlichkeit in all ihren Facetten aus – und lässt hierbei die gesellschaftliche Dimension nicht aus. In langen Einstellungen lässt er die Zuschauer in die Umgebung ein- tauchen und illustriert die Widersprüche und Eigenarten der weitestgehend isoliert leben- den Einwohner. Die Verzweiflung, Erschöpfung und Bitterkeit steht ihnen ins Gesicht geschrie- ben; die schneebedeckte Kälte und sommer- liche Dürre der Umgebung, in der kein Gras- halm lange grün bleibt, spiegelt dies eindrück- lich wieder. „Es ist, als ob alles Schöne dieser Welt in Netzen hängen bleibt. In Netzen, die wir selbst gesponnen haben“, sagt die Prota- gonistin Nuray in einer Szene des Films. Das trifft in gewisser Weise auch auf den Film zu, der mit 167 Minuten Länge die Zeit vergessen lässt. Auf die Perspektive komme es an, lehrt Protagonist Samet seinen Schülern und Re- gisseur Ceylan lehrt es dem Publikum. 2023 feierte der Film im Wettbewerb von Cannes seine Weltpremiere. Darstellerin Merve Dizdar erhielt die Auszeichnung als beste Darstelle- rin. Die MOIN Filmförderung war an der Finan- zierung des Films beteiligt – und so kommt das hiesige Publikum zu der Ehre, dieses filmische Netz voller Schönheit zu betrachten. Text: Marco Arellano Gomes AB 16. MAI TÜR/F/D 2023; 167 Min.; R: Nuri Bilge Ceylan; D: Deniz Celiloğlu, Merve Dizdar, Musab Ekici ★★★★★ In einem abgelegenen Dorf in den schneebe- deckten Weiten Ost-Anatoliens unterrichtet der aus Istanbul stammende Lehrer Samet (De- niz Celiloğlu) seit vier Jahren Kunst. Seine Frei- zeit verbringt er mit seinem Hobby, der Foto- grafie und Gesprächen mit einigen der Einwoh- ner. Gewissenhaft und sehnsüchtig wartet er darauf, aus „demKaff“ versetzt zu werden und die Trostlosigkeit des Landlebens hinter sich zu lassen. Doch zuvor will er noch seinen Kol- legen und Mitbewohner Kenan (Musab Ekici) mit Nuray (Merve Dizdar) verkuppeln, mit der eigentlich er selbst verkuppelt werden sollte. Als er und Kenan wenig später beschuldigt werden, sich Schülerinnen gegenüber unan- gemessen verhalten zu haben, lernt er völlig neue Seiten von sich kennen … Der Autorenfilmer Nuri Bilge Ceylan („Jahres- zeiten – İklimler“) gilt als Poet des Kinos. Auch sein neuer Film „Auf trockenen Gräsern“ wird diesemRuf gerecht. Visuell imposant, darstel- lerisch markant und inhaltlich provokant lotet Ceylan die Facetten des menschlichen Daseins 22 23 Eureka South Dakota heute: Im Pine Ridge Reservat wütet ein Schnee- sturm, während im Fernsehen die immer gleichen alten Western- Streifen laufen. Alaina (Alaina Clifford), eine von wenigen Polizei- kräften in der Gegend, hat Nachtdienst. In dem abgelegenen Örtchen bestimmen Armut, Gewalt, Alkohol- und Drogenmiss- brauch den Alltag. Völlig überfordert und am Ende ihrer Kräfte fährt sie von Fall zu Fall. Auch Sadie (Sadie Lapointe) leidet unter der Perspektivlosigkeit, die im Reservat herrscht. Während Pine Ridge wie eine vergessene Welt unter der ebenen Schneedecke verschwindet, fasst sie einen Entschluss: Sie bittet ihren Groß- vater darum, ein Versprechen einzulösen, um ihre Kultur und den Weg der Kolonialisierung zu ergründen – durch Raum und Zeit in den Tiefen der Amazonaswälder im Jahre 1974. Gewohnt experimentell kehrt Lisandro Alonso („Jauja”) nach neun- jähriger Pause mit einem neuen Film zum Thema Randgesellschaft zurück. In drei Akten, die unterschiedlicher nicht sein könnten, kreiert er mit „Eureka“ ein Prisma indigener Kultur. Aus Hollywoods schwarz-weißemWilden Westen – Viggo Mortensen als wortkar- ger Revolverheld, immer mit einem lockeren Finger am Abzug – über South Dakota bis nach Brasilien. Dort, wo die Kulturen auf- einandertreffen, bleibt für die einheimische Bevölkerung wenig übrig – abgeschnitten von ihren Wurzeln und ihren Traditionen, zurückgelassen in gesetzloser Einöde. Ein kritischer Blick auf den klassischen Western und sein gesellschaftliches Vermächtnis aus der Perspektive der einheimischen Bevölkerung. Mit analytischemBlick und subtil-bedrückenden Bildern skizziert Alonso den Schmerz und die Ursachen des Identitätsverlusts durch Kolonialisierung. In Slow Cinema-Tradition spielt er mit Stille statt Soundtrack, Kryptierung statt Kontinuität, Authentizität statt Ac- tion. Das Ergebnis ist ein stimmungsvoller Anti-Western, der je- dem Bild Zeit lässt, seine Wirkung zu entfalten und nicht selten das Zeitgefühl der Zuschauer auf die Probe stellt. (pau) AB 25. APRIL ARG/D/F/MEX/PT 2023; 146 Min.; R: Lisandro Alonso; D: Alaina Clifford, Sadie Lapointe, Viggo Mortensen ★★★★★ Zwischen uns das Leben Panik packte den bekannten Pariser Filmschauspieler Mathieu (grandios: Guillaume Canet) vier Wochen vor seinem mit Span- nung erwarteten Bühnendebüt, er hat hingeschmissen, einfach so, aus heiteremHimmel. Nun verkriecht sich der attraktive End- vierziger samt Selbstzweifeln und Versagensängsten in einem steril-luxuriösen Wellnesshotel an der bretonischen Westküste außerhalb der Saison. Nichts will Mathieu mehr gelingen, selbst die vollautomatische Espressomaschine bringt ihn zur Verzweif- lung. Da erreicht ihn eine Nachricht von Alice (umwerfend: Alba Rohrwacher). Vor mehr als 15 Jahren, damals war Mathieu noch kein Star, hatte er sich in Paris von ihr getrennt, heute lebt die einstige Flamme mit Ehemann und Kind unweit des Spa. Seit da- mals hatten die beiden nie mehr Kontakt. Beim Treffen im Café ist die anfängliche Unsicherheit bald über- wunden. Alice verzaubert den Schauspieler (und auch das Kino- publikum) mit ihrem unwiderstehlichen, melancholischen Charme. Hinter ihrem Lächeln verbirgt sie den Schmerz, sich nie als Pia- nistin realisiert zu haben. Die nur langsam verheilten Wunden vom abrupten Ende ihrer damaligen Beziehung brechen wieder auf, aber auch die Sehnsucht kehrt zurück. Ihre Welten könnten gegen- sätzlicher nicht sein, aber zusammen teilen und durchbrechen sie ihre Einsamkeit. Am Ende des Tages nehmen sie Abschied voneinander, um sich am nächsten Tag entgegen aller Vernunft wieder zu sehen und wieder Abschied zu nehmen. Virtuos, wie Landschaft und Innenräume die Gefühle widerspie- geln, Desillusionierung ist bei dem französischen Regisseur Sté- phane Brizé („Another World“, 2021) oft Ausgangspunkt seiner Filme, ob es um Industrieunternehmen geht oder die Liebe. „Zwi- schen uns das Leben“ beginnt kühl, humorvoll, erinnert ein wenig an Sofia Coppolas „Lost in Translation“, doch wenn Alice auftaucht und die Protagonisten über verpasste Chancen oder ramponier- te Träume reflektieren, ändert Brizé Tonalität und Stil, jene un- ermesslich schmerzvolle Zärtlichkeit mutet wie ein herrlich anti- quiertes Überbleibsel aus den Werken Claude Lelouchs an. Der Autorenfilmer beherrscht die Kunst des Abschweifens, mit der Tragik schleicht sich gelegentlich auch wieder Komik in die zu- tiefst berührende Beziehungsstudie ein. (ag) AB 1. MAI F 2023; 115 Min.; R: Stéphane Brizé; D: Guillaume Canet, Alba Rohrwacher, Sharif Andoura ★★★★★ Foto: Grandfilm/Slot Machine Foto: Michael Crotto/Alamode Film FILM
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