hamburg:pur Mai 2023
4 ESSEN+TRINKEN BOTANICA URBANA Utopie aus Glas und Stahl Wer im Glashaus sitzt, … rettet es vor dem Abriss. Die Initiative Botanica Urbana baute ein altes Gewächshaus am Diebsteich ab und will es auf einem öffentlichen Dach wieder errichten – als Kulturort und Gemeinschaftsgarten für alle Quartier am Diebsteich, dem die Glashäuser weichen müs- sen. Bald schon sollen die Bagger anrollen. Also kontaktiert Flavio den Grundstückseigentümer TomCornils und legt ihm eine Präsentation seines Architekturbüros Borneo Architec- ture vor. Seine Vision: Eines der Gewächshäuser soll abge- baut und an anderer Stelle – einem für die Öffentlichkeit zugänglichen Parkhausdach – wieder aufgebaut werden. Zirkuläre Architektur nennt sich der Vorgang, wenn bereits genutzte Rohstoffe nicht zu Abfall werden, sondern der Wei- terverwertung und dem Wiederaufbau dienen. „Viele Archi- tekturbüros planen neue Projekte und fragen sich nicht, wo- her die Materialien kommen“, erklärt Flavio. „Dabei ist der Bausektor für fast 40 Prozent der CO 2 -Emissionen weltweit verantwortlich“, fährt er fort und bezieht sich dabei auf einen Bericht der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2020. Dessen Fazit: Die Baubranche hat sich von den im Pariser Klima- schutzabkommen festgelegten Zielen weiter entfernt anstatt sich anzunähern … Die Greenhouse Gang kommt zusammen Lange Zeit passiert nichts, dann kommt im Dezember 2022 überraschend eine Antwort des Besitzers: Die Materialien des Gewächshauses dürfen abgebaut und weiterverwendet werden. Doch zu diesem Zeitpunkt sind es nur noch wenige Monate bis zum Abriss. Weil Flavio und seine Freundin Pau- la Iniesta Rudolph wissen, dass sie diese Aufgabe zu zweit unmöglich bewältigen können, mobilisieren sie ihren Freun- deskreis und beginnen über Instagram helfende Hände für den Abbau zu suchen. Die Initiative Botanica Urbana ist ge- boren – und findet direkt großen Anklang. Plötzlich reposten auch Unbekannte die Aufrufe der beiden auf Instagram. Die eigens für das Projekt erstellte Telegram-Gruppe zählt nach einigen Wochen fast 350 Mitglieder. „Wir haben mit 18 Leu- ten aus unseremBekanntenkreis angefangen, bei denen wir Manchmal lohnt es sich, Wege abseits der großen Straßen zu nehmen. Wer am Diebsteich einen Blick in den Hinterhof eines Steinmetzbetriebes warf, fand bis vor Kurzem noch einen fast schon magischen Ort aus Glas und Stahl vor. Ver- wildert und verwunschen standen sie dort: die alten Gewächs- häuser, die einst von der benachbarten Friedhofsgärtnerei betrieben wurden. Einige der vergilbten Scheiben schimmer- ten irisierend in Regenbogenfarben, wenn das Licht auf sie traf; im Inneren war die Natur dabei, sich den Raum zurück- zuerobern. In diesem Zustand entdeckt auch Flavio Mancuso vor eineinhalb Jahren das Areal bei einem seiner Streifzüge durch die Stadt und ist sofort fasziniert. „Diese Gewächs- häuser sind in perfektem Zustand“, denkt er. Zirkuläre Architektur gegen CO 2 -Emissionen Doch der Architekt und Stadtplaner weiß von den Bebau- ungsplänen rund um den neuen Fernbahnhof Altona und das Foto: Botanica Urbana ESSEN+TRINKEN dachten, dass sie Lust drauf haben könnten – und innerhalb von sechs Stunden waren plötzlich 200 Personen in der Gruppe“, berichtet Paula begeistert. Das erste Wochenende geht dafür drauf, um das zugewu- cherte Gewächshaus von Pflanzen zu befreien, danach be- ginnt der eigentliche Abbau. Schnell entwickelt sich eine Grup- pendynamik, ein harter Kern von zehn bis 15 Leuten ist fast immer dabei, um zu helfen. Auch für diejenigen, die hand- werklich unerfahren sind, gibt es genug zu tun. „Wir finden immer Aufgaben: Pläne machen, Sachen beschriften, Glas- platten in Boxen verpacken“, so Paula. Dabei entstehen nicht nur Arbeitsbeziehungen, sondern neue Freundschaften. „Wir haben so viele coole Leute getroffen, jemand hat uns sogar maßgefertigte Boxen gezimmert, um die Glasscheiben zu la- gern“, erzählt die Sozialökonomie-Studentin. Auch von Unter- nehmen aus der Umgebung gäbe es Unterstützung in Form von Holz- und Palettenspenden. Ein Gewächshaus soll hoch hinaus Nach sechs Wochenenden Arbeit haben es Flavio, Paula und die restliche Greenhouse-Gang imMärz 2023 geschafft. Das in seine Einzelteile zerlegte Gewächshaus kommt nun vor- erst in ein Lager, wo es bleiben darf, bis Botanica Urbana einen geeigneten Ort gefunden hat, um es wieder aufzubauen. Dafür steht die Initiative bereits mit einigen Bezirksämtern und verschiedenen Projekten wie obenstadt in Kontakt. Ihre Wunschvorstellung: Über den Dächern der Stadt soll noch in diesem Jahr ein Kulturort und Gemeinschaftsgarten mit an- grenzendem, für verschiedene Gruppen offenem Pop-up- Restaurant und -café entstehen. In der dazugehörigen Küche wird das angebaute Gemüse direkt weiterverwendet – und so das Konzept der zirkulären Architektur mit ihrer Planung in Kreisläufen erneut aufgegriffen. „Alles, was vor Ort ist, bleibt vor Ort, wir wollen Architektur ohne CO 2 -Ausstoß ma- chen“, erklärt Flavio. Seine Freundin Paula ergänzt: „Und zu- sätzlich CO 2 kompensieren, indemwir einen grünen Ort schaf- fen, der das Stadtklima ein bisschen abkühlen kann.“ Wichtig für die beiden: Ihr Projekt soll in der Hand der Com- munity bleiben – ein Investor, der Geld vorstreckt und dann mitbestimmen möchte, kommt für sie nicht infrage. „Das kann für viele Leute ein kleiner Hoffnungsschimmer sein, gerade in einer sehr wohlhabenden Stadt wie Hamburg, wo sich Mög- lichkeiten erst auftun, wenn man genügend Kapital hat“, meint Paula. Botanica Urbana ist dafür umso mehr auf Spenden angewiesen, denn die Kosten für den perfekten Wiederauf- bau und die Einrichtung des Gewächshauses schätzen die beiden auf etwa 80.000 Euro. Dafür haben sie eine Crowd funding-Kampagne auf gofundme ins Leben gerufen. Bis- lang sind dort rund 1.700 Euro des deklarierten Ziels von 10.000 Euro zusammengekommen. Dem Promoten ihres Crowdfundings wollen sich Paula und Flavio nun verstärkt widmen, nachdem der Abbau abgeschlossen ist. Ihre Stand- ort-Favoriten für das Gewächshaus? Das Mercado-Parkdeck, das Dach vom IKEA Altona und das Gebäude der ehemaligen Karstadt-Filiale in der Osterstraße stehen hoch imKurs. „Ideal wäre eine Fläche, wo auch draußen noch Platz ist, wie in einem Park 2.0“, sagt Paula. Ins gläserne Gewächshaus kommen dürfen dann alle, nicht nur diejenigen, die dort etwas kaufen und verzehren – ein im wahrsten Sinne des Wortes offener Ort. Text: Sirany Schümann gofundme.com/f/botanica-urbana 09.03.2024 Barclays Arena 5
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