hamburg:pur mai 2022

Foto: Sandro Kopp/Kick the Machine Films/Burning Anna Sanders Films/Match Factory Productions/ZDF-Arte and Piano Memoria Seit Jessica (Tilda Swinton) imMorgengrauen von einem dumpfen Knall geweckt wird, kommt sie nicht mehr zur Ruhe. Schlaflos begibt sie sich auf die Suche nach dem Ursprung des Geräusches, das nur sie zu hö- ren scheint. Ihre Suche verschlägt sie nach Bogotá. Hier trifft sie auf die Archäologin Agnés (Jeanne Balibar). Schon bald begleitet Jessica Agnés zu einer Ausgrabungsstätte, die beim Bau eines Tunnels ent- deckt wurde. Dort bezeugen unzählige Skelette die vergessenen Schre- cken der kolonialen Vergangenheit Kolumbiens. Eine dunkle Vorahnung zum Ursprung des Geräusches sucht Jessica heim. In einem kleinen Ort nahe der Ausgrabungsstätte macht sie Bekanntschaft mit Hernán (Elkin Díaz). Gemeinsam begeben sich die beiden tief hinein in das Ge- dächtnis des Landes. In einem unkonventionellen Zusammenspiel von Bild und Ton beschwört der thailändische Regisseur Apichatpong Weerasethakul die Geister der Vergangenheit. Die Erinnerungen an die koloniale Geschichte sind nicht zu greifen, sie sind flüchtig. Sie liegen verborgen in raschelnden Baumkronen und plätschernden Bächen, im Pfeifen des Windes und der Trockenheit der Erde. Weerasethakul spielt in „Memoria“ mit mar- kanten Sounds und stellt sie in den Fokus. Vor demHintergrund langer, fast endlos scheinender Bildeinstellungen wird der Ton so zum geheim- nisvollen Protagonisten des Filmes. Auch die Stille nimmt einen be- sonderen Stellenwert ein. In der Schlussszene liegt sie wie ein Schleier über eindrucksvollen Bildern. Die Abwesenheit des Tons untermalt so die Brutalität kolonialer Aneignungspraktiken, die auch vor der Erin- nerung nicht Halt macht. (am) Foto: Leonine Studios FILM Steuerprüfung ins Haus. Die zuständige Finanzbeamtin (zum Fürchten und Niederknien: Jamie Lee Curtis) macht nicht den Eindruck, als wäre mit ihr gut Kirschen essen. Und dann passiert es: Mitten in der Anhö- rung erscheint Evelyn plötzlich eine alternative Version ihres Mannes. „Alpha Waymond“ konfrontiert sie mit der Tatsache, dass unendlich viele Evelyns existieren. Doch das Multiversum, in dem diese sich tum- meln, wird durch eine Superschurkin namens „Jobu Tupaki“ bedroht, die alle Welten mittels eines gigantischen, rotierenden Bagels vernich- ten will … und sich in der Gestalt von Evelyns Tochter Joy manifestiert. So weit, so gaga. Grundprämisse dieses abstrusen, an die Drehbücher von Charlie Kauf- man erinnernden Plots ist, dass jede Entscheidung, die ein Mensch fällt, eine abzweigende Realität entstehen lässt. So häuft jeder im­ Laufe seines Lebens eine Vielzahl parallel existierender Welten an. Um zwischen ihnen navigieren zu können, braucht es einen Trigger: Zum Beispiel spiegelverkehrt getragene Schuhe. Rechts auf links, links auf rechts, schon kann Evelyn zwischen vielen Versionen ihrer selbst hin- und herspringen. Was folgt, ist ein Wirbel aus durchgeknallten Kostü- men, haarsträubenden Kampf-Sequenzen und visuellen Gags – mal spektakulär inszeniert, mal ins Alberne abdriftend. All dem Zinnober liegt eine profunde Geschichte von drohendem familiärem Zerfall, zö- gerlicher gegenseitiger Akzeptanz und schlussendlicher Heilung zu- grunde. Evelyn und ihre Lieben müssen einmal imSchleudergang durch alle möglichen und unmöglichen Lebensentwürfe, um letztlich durch- geschüttelt, aber frisch gestärkt die Fäden wieder aufzunehmen … daheim im eigenen Waschsalon. (cc) AB 28. APRIL USA 2022; 139 Min.; R: Daniels: Dan Kwan, Daniel Scheinert; D: Michelle Yeoh, Jamie Lee Curtis, Stephanie Hsu ★★★★ ★ AB 5. MAI COL/THA/GB/MEX/F 2021; 136 Min.; R: Apichatpong Weerasethakul; D: Tilda Swinton, Elkin Díaz, Jeanne Balibar ★★★ ★★ Everything, Everywhere, All at Once Die chinesische Immigrantin Evelyn (Michelle Yeoh) betreibt in Kalifor- nien einen ruinösen Waschsalon. Ihr Leben ist ein einziges Chaos: Die Ehe mit ihrem Mann Waymond (Jonathan Ke Kwan) droht zu kentern, untermDach wohnt ihr renitenter, pflegebedürftiger Vater (James Hong) und obendrein hadert sie mit dem lesbischen Coming-out ihrer Toch- ter Joy (Stephanie Hsu). Zu allem Überfluss steht nun auch noch eine 24 Foto: Neue Visionen Filmverleih Der erste Kinobesuch verändert das Leben des neunjährigen Samay (grandios: Bhavin Rabari) für immer. Filme machen will er und nichts anderes. Seine Familie ist arm, lebt in einem abgelegenen Dorf in Gu- jarat, Indien. Hier halten die Züge nur wenige Augenblicke, Samay rennt FILM den Bahnsteig entlang, um den Reisenden heißen Tee durchs Abteil- fenster zu reichen. Nun aber drückt er sich vor der Arbeit, schwänzt die Schule, fährt stattdessen heimlich in die Stadt. Der wissbegierige Junge freundet sich dort mit dem Filmvorführer Fazal (Bhavesh Shri- mali) an, der lässt ihn im Tausch gegen den Inhalt seiner Lunchbox in die Vorstellungen, führt ihn ein in die Geheimnisse der ratternden Pro- jektoren, die magische Welt von Bollywood und Stanley Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“ (1968). Filme drehen ist für Samay eine Jagd nach dem Licht. Seine Freunde unterstützen ihn, er ist der geborene Geschichtenerzähler, durch ihn wird ihr Alltag abenteuerlicher, bunter. Für die Realisierung seiner Träume klaut der Neunjährige ohne Skru- pel, improvisiert mit ungeheurer Fantasie seine erste Vorstellung be- wegter Bilder imDorf. Doch die Ära des Zelluloids neigt sich dem Ende zu, vielen Kinos droht die Schließung. „Das Licht, aus dem die Träume sind“ basiert auf den Erinnerungen und Reflexionen des indischen Re- gisseurs Pan Nalin („Samsara“), genau wie sein Protagonist kommt er aus Gujarat, hat Tee an Reisende verkauft und Prügel bezogen fürs Stehlen oder Schuleschwänzen. Im Gegensatz zu Giuseppe Tornato- res „Cinema Paradiso“ (1989) integriert Nalin seine Hommagen an die Filmemacher in die Handlung, möchte nicht, dass sie leicht zu dechif- frieren sind. Wenn Samay die Gleise entlangläuft, erinnert die Weite der Landschaft an Sergio Leone und den frühen Terrence Malick. Das lyrische Spiel von Dunkel und Helligkeit, die Farbschattierungen sind von unglaublich kraftvoller Schönheit. Ebenso groß ist das Entsetzen beim Anblick Hunderttausender von Filmrollen, die eingeschmolzen werden und sich in dünne bunte Armreifen verwandeln. (ag) AB 12. MAI IND/F 2021; 110 Min.; R: Pan Nalin; D: Bhavin Rabari, Bhavesh Shrimali, Richa Meena ★★★★ ★ Das Licht, aus demdie Träume sind Foto: Grandfilm Blutsauger August 1928: Bei einem Strandspaziergang in einem extravaganten deutschen Badeort lernt der sowjetische Fabrikarbeiter Ljowuschka (Alexandre Koberidze) die exzentrische Fabrikbesitzerin Octavia Flam- bow-Jansen (Lilith Stangenberg) und ihren tölpelhaften Diener Jakob (Alexander Herbst) kennen. Er erzählt ihr von seinem Traum, Schau- spieler in Hollywood zu werden. In seiner Heimat wurde er als Trotzki-Darsteller für den Film „Oktober“ vom Regielegende Sergei Eisenstein gecastet. Doch seine Träume vomKünst- lerleben zerplatzten, als Trotzki bei Stalin in Ungnade fiel und sein Part somit komplett aus dem Film gestrichen wurde. Seine Flucht führte ihn in das sommerliche Ostseebad, wo er als verfolgter Baron verkleidet versucht, Geld für die Überfahrt nach New York zusammenzu- stehlen. Die romantisch veran- lagte Millionärin Octavia verfällt dem etwas wortkargen Marxis- ten und bietet ihm Unter- schlupf. Doch die Romanze will nicht so recht in Fahrt kommen – zumal Vampire in der Gegend ihr Unwesen treiben … Julian Radl­ maiers „Blutsauger“ macht keinen Hehl daraus, dass nichts besonders ernst genommen wird: Die Darstellungen sind so übertrieben wie die gestelzten Dialoge. Auch das historische Setting wird bewusst igno- riert: Moderne Containerschiffe sind ebenso zu sehen wie eine mo­ derne Dose (!) Coca-Cola und moderne Möbel. Das gibt dem Ganzen eine besondere Bizarrheit und entfaltet gerade deshalb Wirkung und lädt zumSchmunzeln ein. Die- ser Film ist anders und allein dadurch eine unerwartete Ent- deckung. Dies lässt über die eine oder andere Schwäche hinwegsehen. Das sahen ei­ nige Filmfeste wohl auch so – etwa das Filmfest Hamburg. Für das Drehbuch gab es sogar den Deutschen Filmpreis. Hier hatte jemand Mut zum Risiko. Das gibt es im deutschsprachi- gen Film nicht oft. (mag) AB 12. MAI D 2021; 125 Min.; R: Julian Radlmaier; D: Alexandre Koberidze, Lilith Stangenberg, Alexander Herbst ★★★ ★★ 25

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