hamburg:pur mai 2022

Foto: André Elbing THEATER ZIRKUS „Denn nur das Herz versteht“ Mit dem Cirque du Soleil reiste der Franzose Frédéric Zipperlin drei Jahre durch die Welt, um dann seine eigene Truppe zu gründen: Cirque Bouffon, den Narrenzirkus. Und der kommt nun nach Hamburg In den Manegen nannte sich Monsieur Zipper- lin „Boul“, weil er in einer großen transparen- ten Kugel auftrat und kleine Kügelchen balan- cierte – er war Jongleur und Kontorsionist, also Schlangenmensch. Heute ist er Zirkusdirektor und inszeniert eigene Shows. Dem aktuellen Programm seines Cirque Bouffon gab er den Titel „Bohemia“: „Es thematisiert eine eigene Lebensart: die einer Subkultur intellektueller Randgruppen, der Maler und Literaten, der Un- angepassten und deren Wunsch, bürgerliche Werte, die als einschränkend erlebt werden, zu überwinden. Zugleich ist es eine Hommage an die Gründerväter der Bohème, die aus Böh- men stammenden Roma.“ Zum 15-jährigen Jubiläum des Narrenzirkus (das rechnerisch schon 2020 hätte gefeiert werden müssen, pandemiebedingt jedoch verschoben wurde) hat Zipperlin ein hand­ verlesenes Ensemble zusammengestellt. Die einzelnen Acts entstehen in einem gemeinsa- men Probenprozess mit den Künstlerinnen und Künstlern, und die wählt Zipperlin stets auch nach menschlichen Aspekten aus: „Ich schaue immer, was funktioniert wie am besten zu­ sammen. Die Chemie im Team muss einfach passen.“ Nach einer Pause ist auch seine Frau Anja Krips wieder dabei, mit der Tänzerin und Sängerin hatte er Cirque Bouffon im Jahr 2005 gegründet. Für das Hamburger Gastspiel wurde ein spe- zielles Zirkuszelt hergestellt, das auf der Klei- nen Moorweide gegenüber vom Dammtor- Bahnhof einen gut sichtbaren und zentralen Platz bekommt. Das Zelt ist nordisch wetter- fest, klimatisiert, beheizbar und platziert die Zuschauer in einem Kreis rund um das Ge- schehen. „Bei uns ist das Publikum sehr nah dran, fast schon mittendrin“, verspricht Zip- perlin, der die jüngste Show als eine „Mischung aus Zirkuskunst, Theater, Tanz, Live-Musik und einer Menge Humor“ beschreibt. Aber eben nicht als gereihte Nummernrevue, sondern mit einer inszenierten Geschichte, die alle Ensem- blemitglieder gemeinschaftlich erzählen. Zu- sätzlich wirkt Musik wie ein roter Faden, denn fast jede Szene wird musikalisch begleitet. Da- für ist es von großer Bedeutung, dass sämtli- che Artistinnen und Artisten (auch) ein Instru- ment spielen: Der Schweizer Clown Antonin Wicky beispielsweise spielt Trompete, und Ezra Weill aus den USA beherrscht Jonglage und Vertikal Rope ebenso wie Saxofon und Ukulele. Sergej Sweschinski aus der Ukraine hat die Musik für „Bohemia“ komponiert, auch er und sein Kontrabass gehören seit der Gründung zum Team. Zipperlin schätzt seinen musikali- schen Leiter sehr: „Seine Musik trägt eine ei­ gene Handschrift. Es sind poetische, sinnliche und rauschhafte Kompositionen, zwischen Bal- kan-Einflüssen, Klezmer und französischer Musik. Alle Musizierenden sind immer Teil der Inszenierung und mitten im Geschehen.“ Ge- spielt und gesungen wird Sweschinskis Musik von zwölf Kollegen aus sieben Ländern. „Un­ sere Bouffon-Musik ist wirklich etwas Beson- deres: Sie ist mal laut, mal leise, manchmal mitreißend-rauschhaft, dann wieder einfühl- sam und melancholisch.“ „Bohemia“ enthält deutlich mehr Gesang als frühere Shows – und gesungen wird in einer Fantasiesprache, der Bouffon-Sprache, wie Frédéric Zipperlin sie nennt: „Das ist eine Besonderheit von Bouffon. Wir berühren das Herz, denn nur das Herz versteht. Ohne Worte.“ Text: Dagmar Ellen Fischer 28. MAI–26. JUNI Cirque Bouffon: Bohemia; Zirkuszelt, Kleine Moorweide 20 Foto: G2 Baraniak Foto: Moog Photography Foto: Kasia Syramalot THEATER Alle Toten fliegen hoch Über kaum einen Schauspieler weiß das Publikum (scheinbar) so viel Persönliches wie über JoachimMeyerhoff. Dafür sorgte er selbst: In seiner sechsteiligen Romanserie „Alle Toten fliegen hoch“ verarbeitet er Biogra­ fisches, ergänzt um erfundene Anteile. Typisch für den Autor Meyerhoff: Wortgewandt wechselt er zwischen urkomischen Anekdoten und todernsten Themen, bei dem das eben noch befreiende Lachen plötzlich erstickt. Büh­ nentauglicher Stoff also, der imAltonaer Theater fürs Publikum aufbereitet wird: Schauspieler Georg Münzel erstellte aus Teil eins der Meyerhoff’schen Hexalogie eine Bühnenfassung und inszeniert sie auch gleich. „Amerika“ erzählt vom jugendlichen Joachim, der ein Schuljahr lang die heimat- liche norddeutsche Provinz gegen eine US-amerikanische Kleinstadt tauscht. Witzig und unterhaltsam schildert er zunächst den Kulturschock und allerlei Herausforderungen, die der erstmals auf sich allein Gestellte bewäl­ tigen muss – bis ihn die Nachricht vom Unfalltod seines älteren Bruders erreicht. (def) AB 8. MAI (PREMIERE); Altonaer Theater Das perfekte Geheimnis Eigentlich sollte es ein netter Abend werden – vier befreundete Paare treffen sich zum gemeinsamen Beobachten einer Mondfinsternis. Doch dank einer Schnaps­ idee verdunkelt sich auch die Stimmung gründlich: Die Gastgeberin schlägt vor, alle Handys auf den Tisch zu legen, um sämtliche eingehenden Nachrichten für alle öffentlich zu machen – welch ein Spaß! Leider nicht für alle, denn eindeutige Fotos und uneindeutige Liebeserklärungen sowie verräterische Sprachnach­ richten schlagen ein wie eine Bombe. Am Ende des Abends trennen sich Frisch­ verliebte, mehrere vermeintlich geheime Affären entwickeln eine äußerst dyna­ mische Sprengkraft, und ein schwules Coming-out muss verdaut werden.„Das perfekte Geheimnis“, ursprünglich ein italienischer Film, zählte als deut­ sche Version 2019 zu den erfolgreichsten Produktionen des Jahres. Die Bühnen­ fassung inszeniert am St. Pauli Theater nun Hausherr Ulrich Waller mit einem Team, zu dem unter anderem Oliver Mommsen, Sebastian Bezzel, Anne Weber und Johanna C. Gehlen gehören. (def) 18. MAI (PREMIERE), 24.–29., 31.5. und weitere Termine; St. Pauli Theater Revolution Wer Bücher verbietet, hat Angst. Vor einem Machtverlust zum Beispiel. Viktor Martinowitschs Roman „Revolution“ ist schon das zweite Werk, das in seiner weißrussischen Heimat auf dem Index steht. Aus gutem Grund, denn darin beschreibt der Autor, wie leicht selbst ein unbescholtener Mann sich korrumpieren lässt: Eine der Mafia ähnliche Organisation nutzt seine kurzfristige finanzielle Notlage aus, erwartet im Gegenzug für unkompli- zierte Hilfe aber die Beteiligung am organisierten Verbrechen. Die brutalen Aufträge führt er zwar nur widerwillig aus, genießt aber andererseits das Luxusleben, das ihm dadurch offensteht. Schauplatz der zunehmenden Verwicklung in mafiöse Strukturen ist das heutige Moskau mit verblüffenden Möglichkeiten, unermesslichen Reichtum zu erlangen – wenn man bereit ist, sich instrumentalisieren zu lassen. Ist persönliche Entscheidungsfreiheit überhaupt noch möglich? Die Parabel auf die Verführbarkeit von Menschen inszeniert der preisgekrönte tschechische Regisseur Dušan David Pařízek. (def) 13. MAI (PREMIERE), 19., 24.5. und weitere Termine; Schauspielhaus 21

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